«Wir stecken in einer Zeit der Turbosexualität: Sex ist überall. Er soll verkaufen, antörnen, Ziel, Lebensinhalt und Erfüllung sein. DasMotto ist: tiefer, schneller, geiler. Alles ist easy, Pornos sind schick – und wer eine Sexpraktik nicht kennt oder nicht gut findet, ist langweilig und prüde.
Immer mehr Leute haben genug von dieser alles platt walzenden Sexualisierung. Manche haben sogar ganz generell genug vom Sex und streichen ihn komplett.
Die Übermüdung ist verständlich. Viel zu viele der geilen Versprechen haben sich als Lügen entpuppt. Wer in dieses Sexkarussell eingestiegen ist, hat mittlerweile eine zermürbend lange Liste von Pflichten am Hals: Auch die Frau muss heute ejakulieren können, er kann nicht nur immer, er kennt auch jeden Kniff. Die Liste der zu exerzierenden Praktiken ist nicht nur lang, sondern für viele beängstigend: SM und Rollenspiele sind längst der Minimalstandard. Wer von der Doppelpenetration bis zum Shemale-Sex nicht alles toll und easy findet, verpasst angeblich das wahre, pralle Leben. Die Reaktion? Ein Rückzug. Pärchen entspannen sich demonstrativ in einer Sexflaute, Singles verzichten genüsslich auf Selbstbefriedigung. Die grosse Überraschung: Alle fühlen sichpudelwohl dabei, keinem fehlt wirklich etwas.
Diese gesunde Distanz zum Sexzirkus ist begrüssenswert. Denn beim Sex sollte gelten: ‹Fast alles geht, aber nichts muss.› Viele haben verlernt, auf ihre Sinne und Bedürfnisse zu hören. Sie wissen vor lauter Trubel kaum mehr, was sie wollen und was ihnen guttut. Aber die individuell erfüllendste Sexualität ist vermutlich wesentlich leiser und simpler als das, was von derSexindustrie propagiert wird.
Ganz aufs Abstellgleis sollte man den Sex aber nicht rollen lassen. Denn bei allem Überdruss gilt: Er ist etwas Schönes. Es ist gesund und es tut gut, den eigenen Körper über Sex zu erleben und zu geniessen. Er mag nicht der alleinige Gradmesser für die Qualität einer Paarbeziehung sein, aber er ist doch ein wichtiges, verbindendes und konstituierendes Element. Denn: Paare schlafen miteinander, blosse Freunde nicht. Ein kompletter Verzicht klappt auf Dauer nur für wenige.
So hilft die Erkenntnis, dass Sex in Wellen passiert. Auf ein Hoch folgt immer ein Tief, Flut und Ebbe wechseln sich ab. Wie hoch der Seegang sein soll, ist Geschmackssache. Allzu bequem machen sollte man es sich aber in keiner dieser Phasen.» l