Leser fragen, Schriftsteller Thomas Meyer antwortet
«Es mangelt überall an Mitgefühl»

Ich bin sehr egoistisch. Das sagen auch andere. Was kann ich dagegen tun?
Publiziert: 02.03.2017 um 16:39 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:30 Uhr
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Thomas Meyer

Eigentlich stehen Sie als Egoist ganz auf der Höhe der Zeit, wie folgende Beispiele zeigen. Die fürchterliche Pelzmode ist wieder populär, was die Käuferinnen und Käufer mit dem Argument «Die Tiere werden sowieso getötet» erklären; in völliger Ignoranz der Tatsache, dass besagte Tiere nur ihretwegen gezüchtet und getötet werden. Die Herstellungsmethoden von Unterhaltungselektronik und Billigmode: egal. Die extreme Umweltbelastung durch Fleischkonsum: egal. Viel zu vielen Menschen geht es nur noch um ihr persönliches Vergnügen. Wer dafür zu bezahlen hat, ist ihnen nicht mal einen Gedanken wert. Egoismus ist kein Charakterdefizit mehr – er ist ein epochaler Zeitgeist.

Der Grund besteht in einem kollektiven und individuellen Mangel an Mitgefühl. Wer einem Bettler Geld gibt, gilt als Förderer des Schmarotzertums, wer Flüchtlingen hilft, als Handlanger des Terrorismus, und wer in Bäumen Lebewesen sieht, als durchgeknallter Esoteriker. Und als Kulturpessimist, wer sich an alledem aufhält. Dennoch hat es den Anschein, als verschlössen sich die Herzen der Menschen immer mehr, was wohl auf folgende vier Probleme zurückzuführen ist: 

  1. Unbewältigte emotionale Verletzungen, die meist dazu führen, dass man sich mit einem Panzer aus Härte und vermeintlicher Unabhängigkeit umgibt.
  2. Massiver Alkoholkonsum, meist nur zum Zweck, seine Gefühle zu betäuben.
  3. Völliger Verlust der Nähe zur Natur.
  4. Entfesselter Kapitalismus, der suggeriert, Reichtum mache glücklich und sei ausserdem jedem zugänglich.

Vielleicht finden Sie ja für sich hier einige Anregungen, sich Gedanken zu machen über die Hintergründe für Ihre Einstellung – und über die Möglichkeit, sich anders zu verhalten. Zu bedenken ist ja: Niemand stirbt einsamer als der Egoist. Es sind nämlich alle froh, ihn los zu sein.

Der Zürcher Schriftsteller Thomas Meyer beobachtet seine Mitmenschen seit nunmehr 42 Jahren. Das ist denen nicht immer recht.

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