Es ist 1.38 Uhr in der Samstagnacht des 24. Septembers 2022, und kein Auge bleibt trocken: Eben beendete der Schweizer Tennisstar Roger Federer (41) am Laver Cup in London sein letztes Spiel als Profi an der Seite von Rafael Nadal (36) und bricht in Tränen aus. Worauf zu dieser schlaftrunkenen Zeit über eine halbe Million Menschen vor den TV-Geräten in der Schweiz ebenfalls wässrige Augen bekommen.
Wir waren gerührt. Der weinende Mann ging uns zu Herzen, wir verspürten eine innerliche Bewegtheit, Ergriffenheit, was mit dem Wort «Rührung» in deutscher Sprache seit dem 18. Jahrhundert gemeint ist. Ein Gefühl, das an Weihnachten Urständ feiert – angesichts erwachsener Familienangehöriger, die sich nach langer Zeit in die Arme fallen, und von Kindern, die mit leuchtenden Augen vor geschmückten Bäumen stehen.
Dieses Jahr bot bereits reichlich rührende Szenen: Vor Federers Abschiedsmatch sass ein Millionenpublikum wegen des Todes der Queen (8. September) tagelang ergriffen vor den Fernsehgeräten oder stand in den Strassen Grossbritanniens; innerlich bewegt sahen viele, wie eine ukrainische Familie ihren Sohn nach dem Rückzug russischer Soldaten in die Arme schliessen konnte (5. April); und Bundesrätin Simonetta Sommaruga (62) sagte bei ihrem Abschied am 7. Dezember zum Nationalratspräsidenten: «Herzlichen Dank für Ihre Worte, sie haben mich sehr berührt.»
«Tendenz zu neuer Empfindsamkeit»
«Heute gibt es eine Tendenz zu neuer Empfindsamkeit», sagt Roger Fayet (56), Direktor des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft (SIK–ISEA). Der promovierte Kunsthistoriker ist Spezialist auf dem Gebiet, hielt er doch 2018 seine Antrittsvorlesung als Dozent an der Universität Zürich zum Thema «Rührung. Zur Ästhetik eines wenig angesehenen Gefühls». Nächstes Jahr veröffentlicht Fayet ein Buch zur Rührung beim Basler Schwabe-Verlag.
«Rührung ist in der Kunst nicht so angesehen und gilt dort als Zeichen, dass der Gegenstand nicht allzu anspruchsvoll ist», sagt er. Rührselig und seicht seien in diesem Zusammenhang häufig genannte Begriffe. Kitsch sei auch etwas, das rührend sein könne. «Und wer gerührt ist, gilt oftmals nicht als anspruchsvolle und intellektuelle Person», sagt der SIK-Direktor. Trotzdem gebe es solche Tränen-, Hühnerhaut- und Kloss-im-Hals-Momente im Leben. «Es wäre also falsch, Rührung zu verdrängen oder als etwas abzutun, was es nicht geben dürfte», so Fayet.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich ein Kunsthistoriker dieses Themas annimmt, denn es sind vor allem Schriftsteller, Philosophen und Historiker, die über Rührung schreiben. «Unser Verständnis des Weinens stammt nicht von den medizinischen oder psychologischen Wissenschaften, sondern von unzähligen Repräsentationen in der Dichtung, der Fiktion, dem Drama», schreibt US-Autor Tom Lutz (69) in seiner Kulturgeschichte der Träne.
Tatsächlich findet sich im «Dorsch», dem wichtigsten Lexikon der Psychologie, kein Eintrag zum Stichwort «Rührung». Und der renommierte Emotionsforscher, der amerikanische Psychologe Robert Plutchik (1927–2006), führt in seinem «Rad der Emotionen» (1980) mit acht Grundgefühlen und deren Abstufungen 32 Begriffe auf – von «ängstlich» über «froh» bis «wütend» –, aber nirgendwo findet sich ein «gerührt».
Zumindest am Weinen ist das Interesse in den letzten Jahren gestiegen, sodass die Psychologin Lauren Bylsma (41) von der Universität Pittsburgh (USA) kürzlich eine Übersicht präsentieren konnte. «Empathische Personen schluchzen generell deutlich mehr», fasst die Fachzeitschrift «Psychologie heute» die Ergebnisse zusammen, Frauen weinen weitaus öfter als Männer und Menschen westlicher Nationen häufiger als Asiaten.
«Erst im Laufe der Jahre entwickeln wir die Fähigkeit, aus positiven Gründen zu weinen», zitiert «Psychologie heute» die Erkenntnisse Bylsmas weiter. «Auch das Leid von Mitmenschen rührt generell eher Erwachsene als Kinder zu Tränen.» Hier nähern wir uns dem Kern der Rührung: Wenn wir Federer und Sommaruga Tränen verdrücken sehen oder die britische Königsfamilie bei der Beerdigung der Queen beobachten, dann fühlen wir mit.
Positives Ende wesentlich für Rührung
Rührung ist aber nicht bloss Mitleid, wie schon der deutsche Dichter Friedrich Schiller (1759–1805) in seiner Studie «Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen» (1792) feststellte: Man sieht etwas Überraschendes, was eigentlich nicht passieren sollte, erlebt dabei die eigene Person als moralische Instanz und macht in diesem Sinn eine positive Erfahrung.
Das positive Ende ist ein wesentliches Element der Rührung im engeren Sinn, sonst wäre sie bloss Trauer und somit Rührung im weiteren Sinn. «Wenn das Gefühl von Auflehnung vom Gefühl der Versöhnung abgelöst wird, dann empfindet man Rührung», sagt Fayet. Bei der Queen-Beerdigung manifestiert sich durch das Zeremoniell, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist: Die Königin ist tot, es lebe der König!
Und bei King Roger? «Er selber und das Publikum machten die Erfahrung, dass sich der Einsatz lohnte und schliesslich alles gut kam», sagt Fayet. Das sei bei vielen Sportlerinnen und Sportlern zu beobachten, wenn sie nach langem Leiden und hartem Training einen Olympiasieg oder Weltmeistertitel erringen – so auch bei der Fussballnationalmannschaft von Argentinien am letzten Sonntag im Katar.
«Geschüttelt, nicht gerührt», lautete im letzten Jahrhundert die Devise von James Bond. Heute sind viele gerührt und geschüttelt. «In letzter Zeit gibt es Werke, in denen Rührung eine wichtige Rolle spielt und die eine ausserordentliche Aufmerksamkeit erfahren haben», sagt Fayet. Er nennt die Videoinstallation «Flora» des Künstlerpaars Hubbard/Birchler an der Kunstbiennale in Venedig 2017 und die Performance von Patti Smith (75) zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan (81) im Jahr 2016.
Die Irin Teresa Hubbard (57) und der Schweizer Alexander Birchler (60) filmten eine Hommage an die US-Bildhauerin Flora Mayo (1899–2000), die in den 1920er Jahren eine Liebesaffäre mit dem Schweizer Künstler Alberto Giacometti (1901–1966) hatte. Während Giacometti in jedem Kunstlexikon vorkommt, ist Mayo nur eine Fussnote in seiner Biografie. «Flora» soll eine Wiedergutmachung und Ehrenrettung für die Künstlerin sein – mit dem Ergebnis, dass das Publikum 2017 gerührt aus dem Schweizer Pavillon in Venedig lief.
Gerührt waren auch die geladenen Gäste am 10. Dezember 2016 – und das trotz der steifen Atmosphäre in Anwesenheit der schwedischen Königsfamilie im Stockholmer Konzerthaus: Ohne Präsenz von Dylan, der den Literaturnobelpreis abholen sollte, gibt Sängerin Smith den Dylan-Song «A Hard Rain’s A-Gonna Fall» zum Besten – und scheitert. Sie muss ihre Performance unterbrechen und sagt kleinlaut: «Sorry, I’m so nervous.» Applaus! Und im Publikum wischt sich da und dort jemand eine Träne aus den Augen, wie man auf dem Video auf Youtube sehen kann.
Intellektuelle Distanz im letzten Jahrhundert
Schwäche und Scheitern rühren in Krisenzeiten Menschen vermehrt, sie achten mehr aufeinander. Spätestens seit den Terroranschlägen von New York am 11. September 2001 weiss der Westen um seine Verletzlichkeit und entwickelte eine gewisse Sensibilität in der Gesellschaft. Neuere Krisenerfahrungen wie etwa der diesjährige Ukraine-Krieg verstärkten das soziale Gefühl.
In den weitgehend krisenfreien 1980er- und 1990er-Jahren war das völlig anders: Damals war man selbst angesichts von Mord und Totschlag wenig gerührt und hat stattdessen gelacht. Exemplarisch dafür stehen Filme wie «Drowning by Numbers» (1988) von Peter Greenaway (80), wo reihenweise Menschen umkommen, oder «Pulp Fiction» (1994) von Quentin Tarantino (59), wo das Blut nach einem Kopfschuss im Autoinnern herumspritzt – und der ganze Kinosaal zerbarst vor Lacher.
Hirn vor Herz: «In der Postmoderne der 1980er- und 1990er-Jahre hielt man intellektuelle Distanz», sagt Fayet. Doch das Denken ist dem Fühlen nicht zwangsläufig fern, waren es doch ausgerechnet die vernunftbetonten Aufklärer des 18. Jahrhunderts, die sich des Themas Rührung als Erste annahmen, etwa der deutsche Philosoph Immanuel Kant (1724–1804) in seiner «Kritik der Urteilskraft» (1790).
Die erste theoretische Auseinandersetzung ab diesem Zeitpunkt bedeutet aber nicht, dass es Rührung nicht schon früher gab. Fayet weiss von Chronisten aus dem Mittelalter, die berichten, wie es bei Friedensverhandlungen verfeindeter Kriegsdelegationen zu extremen Rührungsbekundungen kam – bei der Unterzeichnung des Vertrags weinten alle vor Freude, auch um sich gegenseitig zu zeigen, wie wichtig dieser Schritt ist. «Heute würde ein solches Verhalten als unprofessionell erachtet», so Fayet.
Und bereits aus der griechischen Antike ist eine rührende Szene bekannt. So beschreibt Homer im 23. Gesang der «Odyssee» (7. Jahrhundert v. Chr.) das Wiedersehen von Odysseus und seiner Frau Penelope nach seiner langen Irrfahrt im Anschluss an den Trojanischen Krieg: «Jener sprach’s; ihr aber erzitterten Herz und Kniee, / Da sie die Zeichen erkannt, die genau ihr verkündeten Odysseus. / Weinend lief sie hinan, und schlang sich mit offenen Armen / Ihrem Gemahl um den Hals (…)»
War innere Ergriffenheit also schon immer in sensiblen Menschen angelegt, könnten schon die Neandertaler (25’000 v. Chr.) eine Träne der Rührung verdrückt haben? Niemand weiss es, doch Fayet hält das für denkbar.