Sina im Exklusiv-Interview
«Ich bin die, die mit den 
Frauen tanzt»

Die erfolgreichste Mundartsängerin der Schweiz feiert ihr 25-jähriges Bühnenjubiläum und wird demnächst für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Ihr neues Album widmet Sina ihrer Walliser Grossmutter – einer Frau mit trauriger Geschichte.
Publiziert: 15.01.2019 um 16:19 Uhr
Sina beim Interview im Restaurant Krone in Lenzburg. Hier feiert sie mit der Aargauer Verwandtschaft ihres Mannes Familienfeste.
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Jonas Dreyfus

Sina, vor 25 Jahren stürmten Sie als erste Frau mit Walliser Mundart die Schweizer Hitparade. Wie waren die Reaktionen in Ihrem Heimatkanton?
Sina: Eher zurückhaltend. Das lag vor allem am hohen Anteil Katholiken im Kanton. Nicht alle mochten den Song «Där Sohn vom Pfarrär». Der lokale Radiosender weigerte sich anfangs, ihn zu spielen.

Hat man Sie die Abneigung persönlich spüren lassen?
Ich wurde nie direkt konfrontiert. Geredet wird ja selten vor einem. Das machte man – typisch schweizerisch – eher hintenrum. Damit konnte ich aber leben.

Sie wohnen mit Ihrem Mann im Aargau, sind aber noch stark
mit Ihrer Heimat verbunden. Ihr neues Album «Emma» widmen Sie Ihrer Walliser Grossmutter. Was hat sie Ihnen bedeutet?
Sie war für mich eine Insel der Geborgenheit. Nach dem Tod meiner Mutter – ich war sechs – lebten ich und mein Bruder fünf Jahre bei ihr und zwei Tanten in Salgesch. Diese drei weiblichen Bezugspersonen haben mich stark geprägt.

Wie? 
Sie zeigten mir, dass Frauen sanft und gleichzeitig zäh sein können. Als Rebbäuerinnen verrichteten sie Männerarbeit. Sie sorgten dafür, dass etwas auf den Tisch kam, und an den Feiertagen zogen sie sich die Trachten an und stellten sich der Gemeinde zur Verfügung, um beim Apéro zu servieren. Frauen waren schon damals mehrfach belastet.

Wo waren die Männer in diesem Drei-Mütter-Haushalt?
Nicht anwesend. Mein Vater war Postauto-Chauffeur im Lötschental, später arbeitete er in der Eisenindustrie. Ich sah ihn damals nur am Wochenende. In der Pubertät zog ich mit meinem Bruder wieder zu ihm. Seine zweite Frau war meine vierte Mutter. Auch sie eine wichtige Bezugsperson.

Im Lied, das Sie Ihrer Grossmutter widmen, singen Sie davon, wie sie eines Tages nicht mehr aufstand und von da an nur noch das Nachthemd trug. Das klingt nach psychischen Problemen. 
Meine Grossmutter wurde schwer depressiv. Viel Unverarbeitetes aus ihrer schwierigen Jugend muss sie eingeholt haben. Sieben Jahre lang ist sie nicht mehr aufgestanden.

Wahrscheinlich kannte man sich damals in den Walliser Bergen mit psychischen Krankheiten nicht besonders aus.
Die Ärzte, die kamen, sagten: «Die Frau ist gesund.» Ausser Klosterfrau Melissengeist hat man ihr nichts verabreicht. Das hat niemanden interessiert damals, sie war ja bereits alt. Wenn sie jung gewesen wäre, hätte man gesagt: «Die will nicht arbeiten!»

Sie erkennen sich in Ihrer Grossmutter wieder, singen: «Ei Hüüt han i z’wenig und äs Härz han i z’vill». Muss man sich um Sina Sorgen machen?
Ich bin nicht depressiv, falls Sie das meinen. Was ich sicher habe, ist einen Hang zur Melancholie. Davon zehre ich, wenn ich Lieder schreibe. Ich hoffe einfach, dass keine Schwermut daraus wird.

Sie standen mit Stefanie Heinzmann an der Feier zu Ehren von Viola Amherd auf der Bühne.Die frisch gewählte Bundesrätin stieg zu Ihnen hoch und stimmte für den Song «Ain’t No Mountain High Enough» mit ein. Wie war das für Sie?
Viola hat mich umgehauen mit ihrer spontanen Energie. Sie hatte offenbar einfach Lust, zu singen und zu tanzen. Drei Walliser Frauen, die einen Song intonieren, in dem es darum geht, Berge zu überwinden – das ist doch eine schöne Botschaft.

Sie sind bereits für Doris Leuthard aufgetreten. Man könnte sagen, Sie sind die, die mit den CVP-Bundesrätinnen tanzt.
Wenn schon, dann bin ich die, die mit den Frauen tanzt. Viola ist die erste Bundesrätin aus dem Wallis, und Doris Leuthard war die erste wiedergewählte Bundespräsidentin. Welcher Partei die beiden angehören, spielt für mich keine Rolle.

Dennoch ist die CVP eine Partei mit katholischer Tradition. Was verbindet Sie mit der Kirche?
Ich bin Katholikin. Als Blauring-Leiterin sammelte ich mit der Gitarre erste musikalische Erfahrungen, mit zwölf Jahren hatte ich in der Pfarrkirche Gampel als Vorsängerin meinen ersten Soloauftritt. Wenn in der Kirche alle dasselbe Gebet murmeln, entsteht diese Energie. Es geht mir weniger um den Inhalt einer Predigt als um das Gefühl, in diesem besinnlichen Raum zu sein. Deshalb wollte ich als Mädchen so gerne ministrieren.

Was aber nicht möglich war.
Ich empfand es als extrem ungerecht, dass ich das als Mädchen nicht durfte. Das ist heute zum Glück anders.

Nach Ihrem Auftritt mit Viola Amherd schrieb der «Walliser Bote», das sei eine Szene mit Symbolkraft gewesen, die der Schweiz ein Bild des Wallis fernab der knorrigen Eigenbrötler und rückständigen Männer
präsentierte. Was ist heute noch dran an diesen Klischees?
Jedes Klischee hat etwas Wahres. Dass die Walliser ihren eigenen «Grind» haben und ihre eigene Art, die Welt zu sehen, hat auch mit unserer Geografie zu tun. Wenn du zwischen zwei Bergketten lebst, dann schaust du eben in dich hinein. Das soll nicht heissen, dass die Leute im Wallis nicht weltoffen sind – aber an Orten wie dem Lötschental treffe ich auf eine andere Welt.

Auf was für eine denn?
Ich fühle mich in der Zeit zurückversetzt, dem Leben und dem Tod viel näher. Alles ist viel fassbarer. Ich bewundere, wie gut es den Bewohnern dort trotz der globalisierten Welt gelingt, eine Identität zu bewahren und sich nicht überall anzupassen. Dazu gehört für mich auch der Dialekt.

Das Lötschental hat eine besondere Ausprägung des Walliserdeutschs. Ein Dialekt im Dialekt. Diese Vorstellung überfordert die Grüezinis, wie Nicht-Walliser von Wallisern genannt werden.
Es gibt viele Ausprägungen des Walliserdeutschs. Ob man du oder dü sagt – das kann bereits in Orten unterschiedlich sein, die zwanzig Minuten auseinander liegen. Als ich von Salgesch nach Gampel zog, hänselte man mich dort in der Schule wegen meiner Form des
Dialekts. Man sagte zu mir: «Du kannst ja nicht mal richtig Deutsch.»

Lustig, dass Walliser solche Sachen auch von ihresgleichen zu hören kriegen.
Der Dialekt ist sehr nahe am Althochdeutsch, uralt und hat nicht alle Sprachveränderungen mitgemacht. Warum sollte ich mich in der Deutschschweiz jetzt plötzlich anpassen? Ich hatte immer die Haltung: Wenn mich jemand nicht versteht, wiederhole ich mich halt so lange, wie es nötig ist.

Wie in vielen Dialekten werden auch im Walliserdeutsch Namen ver-es-licht. Die Ursina heisst ds’ Ursina. In einem neuen Song singen Sie über ein Klassentreffen, bei dem ds’Thomi eine Rede hält. Was ist das für ein Name?
Das ist die Abkürzung für Thomas.

S’Thomas würde man sonst wohl nirgendwo in der Schweiz sagen. Damit ist das Wallis der einzige Kanton, in dem auch Männer verniedlicht werden.
So viel Gleichberechtigung muss sein.

Sie sagten einmal, Sie seien sehr bodenständig erzogen worden. Nicht auffallen, sich nicht in den Vordergrund drängen waren Tugenden, an die Sie sich hielten. Warum sind Sie trotzdem im Showgeschäft gelandet?
Weil ich Musik zu meinem Lebensinhalt machen wollte. Mein Vater hatte zu Hause instrumentale Tango-Platten. Diese kleinen 45er. Ich begann, Melodien mit Fantasietexten dazu zu singen. So hat alles begonnen. Später sang ich in einer  Band mit Freunden aus dem Dorf.

Wie kamen Sie zu Ihren ersten Auftritten als Solosängerin?
Mit 17 Jahren hatte ich ein Management in Zürich, das mich an Dorffesten und in Dancings unterbrachte.

Dancings – das klingt ein bisschen anrüchig.
War es zum Teil auch. Ich habe dort gelernt, ein Publikum auf mich aufmerksam zu machen, das mich eigentlich gar nicht hören wollte.

Hat Sie jemand begleitet?
Nein, ich zog alleine durch die Schweiz mit einem kleinen Metallkoffer, in dem ich Kassettli mit Playbacks zu den Songs von Donna Summer oder Whitney Houston transportierte, die ich sang. Die musste man damals in Deutschland bestellen. Sie waren teuer und durften nicht mit Feuchtigkeit in Berührung kommen.

Bevor Sie von der Musik leben konnten, arbeiteten Sie als Bankangestellte in Zürich. Was war das für eine Zeit? 
Eine zwischen zwei Welten. Jedes Wochenende gings am Freitagabend mit dem Zug durch den Lötschberg heim ins geliebte Wallis. Um jede mögliche Minute dort zu verbringen, fuhr ich erst am Montagmorgen zurück. Ich stand um vier auf, damit ich um acht bei der Arbeit war. Oft war der Selecta-Automat die einzige Möglichkeit, etwas Essbares zu kriegen.

Warum haben Sie sich eigentlich den Künstlernamen Sina zugelegt?
Mein Vorname, Ursula, hat mir nie gefallen. Es war für mich eine Befreiung, als Sina ein neues Leben als Musikerin anzufangen.

Im Februar werden Sie an den Swiss Music Awards für Ihr Lebenswerk ausgezeichnet. Ihr allererstes Album hiess «Mein Herz steht in Flammen». Sie nannten sich Sina Campell und sangen deutschen Schlager. Wer heute Ihre Musik hört, kann sich das nicht vorstellen.
Ich mir ehrlich gesagt auch nicht mehr. Aber ich musste selber herausfinden, dass diese Art von Musik nichts für mich war. Ich habe damit praktisch keinen einzigen Tonträger verkauft. Meine Art, mich auszudrücken, liegt in der Mundart. Ich rede, ich denke und ich träume auf Walliserdeutsch.

Walliserin räumt ab

Ursula Bellwald, bekannt als Sina, kam 1966 in Visp VS zur Welt. Mit neun Gold- und zwei Platin-Auszeichnungen ist die gelernte Bankkauffrau die erfolgreichste Mundart-Sängerin der Schweiz. Ihr jüngstes, dreizehntes Album «Emma», das am 1. Februar
erscheint, produzierte Adrian Stern. Entstanden sind verspielte Popsongs mit Folk-Einflüssen, die Sinas charakteristische Stimme und den Geschichten, die sie damit erzählt, viel Raum geben. Am 16. Februar erhält die Walliserin an den Swiss Music Awards als erste Frau den Outstanding Achievement Award. Sina wohnt mit ihrem Mann, dem Musiker Markus Kühne, am Hallwilersee im Aargau.

Ursula Bellwald, bekannt als Sina, kam 1966 in Visp VS zur Welt. Mit neun Gold- und zwei Platin-Auszeichnungen ist die gelernte Bankkauffrau die erfolgreichste Mundart-Sängerin der Schweiz. Ihr jüngstes, dreizehntes Album «Emma», das am 1. Februar
erscheint, produzierte Adrian Stern. Entstanden sind verspielte Popsongs mit Folk-Einflüssen, die Sinas charakteristische Stimme und den Geschichten, die sie damit erzählt, viel Raum geben. Am 16. Februar erhält die Walliserin an den Swiss Music Awards als erste Frau den Outstanding Achievement Award. Sina wohnt mit ihrem Mann, dem Musiker Markus Kühne, am Hallwilersee im Aargau.

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