Sie sagten kürzlich, dass Sie manchmal uns allen zuliebe gern das Internet in die Luft sprengen würden. Wie meinen Sie das?
Jürg Halter: Wie ich technisch vorgehe? Das kann ich hier nicht genau sagen, ich will meine Pläne nicht offenlegen (lacht).
Im Ernst.
Es macht mir manchmal Angst, wie vergiftet wir im Internet miteinander kommunizieren. In und zwischen diesen Blasen und Bläschen. Manche Menschen sind in mehreren Blasen zugegen und respektieren Andersdenkende. Viele bleiben aber lieber unter sich. Dann wird es gefährlich. Es ist absurd: Die Gesellschaft ist digital stärker miteinander verbunden denn je und driftet doch auseinander. Viele Menschen halten Komplexität und Widersprüche schlecht aus. Die Informationsflut reisst niemals ab, das überfordert fundamental. Viele suchen darum nach eindeutigen Freund-und-Feind-Bildern.
Wo sehen Sie solche Vereinfachungen?
Zum Beispiel nach den Wahlen letztes Jahr in den USA: Der Demagoge Trump machte bei Schwarzen und Latinos mehr Stimmen als bei seiner Wahl 2016. Die einzige Gruppe, bei der er deutlich Stimmen verlor, war bei den alten weissen Männern. Das aber passt nicht zur Erzählung der linksliberalen Blase. In dieser gilt der sogenannt alte weisse Mann als das Böse und alle sogenannten Minderheiten als das Gute. Die Realität ist weitaus komplexer.
Sie haben gerade einen Gedichtband veröffentlicht. Viele Menschen können nichts mit Gedichten anfangen.
Ja, leider. Ich kann das aber verstehen.
Woran liegt es?
Viel deutschsprachige Gegenwartslyrik ist verkopft und hat wenig direkte Bezüge zum unmittelbaren Alltag. Oft fehlt es auch an Humor. Vielleicht haben Schweizerinnen und Schweizer aber auch Angst vor Poesie. Mein Anspruch ist es jedenfalls, verständliche Gedichte zu schreiben. Sowieso: Poesie ist überall zu finden, wenn man nur offen für sie ist.
Unser Corona-Alltag ist wenig poetisch. Was vermissen Sie?
Das öffentliche Leben. Die Zufallsbegegnungen, das Flanieren durch lebendige Städte, in einem Café zu sitzen, Leute zu beobachten, mit Leuten ins Gespräch zu kommen, flüchtige Bekannte per Zufall treffen. Das fehlt mir. Das bunte Leben. Ich vermisse das Überraschende.
Entstehen so auch Gedichte? Durch Zufälle?
Ja, etwa das Gedicht «Blow Job» ist so entstanden. Es war im Lokal Drei Eidgenossen hier in Bern. Eine Frau setzte sich ungefragt zu mir an den Tisch. Es stellte sich heraus, dass sie eine Ärztin aus England und für einen Kongress in Bern ist. Sie erzählte mir, dass sie traumatisierte, vergewaltigte Kinder therapiere.
Können wir das Gedicht abdrucken ab der Stelle, wo sie Ihnen das erzählt?
Klar.
(…)
In ihrer Praxis in England sei sie mal
von einem Fünfjährigen gefragt worden:
«Why is it called a blow job, when I have to suck?»
Noch bevor du darauf reagieren kannst,
rattern dir plötzlich Statistiken durch den Kopf,
unter 1000 Menschen so viele Missbrauchsopfer,
so viele Schläge, so viele Vergewaltiger, so …
wie vielen Opfern und Tätern hast du diese Woche
schon unwissend in die Augen geschaut?
Deine Überforderung lässt du dir nicht anmerken,
möchtest in deiner überschaubaren Zeitung weiterblättern
und dein natürliches Bier aus der Region trinken,
bevor du dich mit Freunden zum Abendessen
in einem Familienrestaurant mit ehrlicher Küche triffst.
Die Frau und du, ihr schweigt nun beide.
Nach einer Weile bemerkt sie streng: «And don't talk
about fucking hope now. Just drink with me.»
Sie schaut dich eindringlich an: «I deserve it.»
Zwingen Sie Menschen gern, da hinzusehen, wo es wehtut?
Ich schreibe über alles, was mich beschäftigt, berührt. Daraus entsteht dann Prosa oder ein Gedicht. Ich schreibe über das Schöne und das Hässliche, über Widersprüche. Das Gedicht «Parallelflüchtende» beispielsweise. Die meisten Menschen haben keine Ahnung, was Flucht heisst. Sie denken, das dauert ein paar Tage. Dabei geht es oft Jahre.
Das drucken wir ganz ab.
Klar.
Auf der monatelangen Flucht über Land und Wasser
sehen Flüchtende am Himmel Flugzeuge –
Steuerflüchtende kehren vom verdienten Urlaub heim.
Ich blicke vom Bildschirm auf.
Vor Corona war die Zeit der Strassenproteste: Klimademos, Frauenstreik, Black Lives Matter. Sie mögen keine Demonstrationen. Warum?
Demonstrationen sind wichtig für eine Demokratie. Es ist mir nur persönlich unangenehm mitzulaufen, vielleicht weil viele Demos auch was Ausschliessendes haben. Die letzte Ausnahme, die ich machte, war der Frauenstreik 2019. Aber ich rede lieber individuell über Politik. Das geht viel tiefer. Ein Beispiel ist Rassismus. Da entwickelte ich ein Bewusstsein, dass es Rassismus viel öfters gibt, als ich dachte. Dieses Bewusstsein habe ich, weil ich mit Menschen spreche, die davon betroffen sind.
Worauf wollen Sie hinaus?
Frei von Rassismus ist niemand. Jeder hat seine beschränkte Perspektive und Erfahrung. Privilegien sind nicht gleichwertig verteilt. Gerade deshalb braucht es Dialog. Für den aber die gegenseitige Bereitschaft, auf Augenhöhe miteinander zu sprechen, unbedingte Voraussetzung ist. Was mich auch stört, ist, wenn jemand behauptet, für eine Gruppe zu sprechen. Dabei ist der Umgang mit Rassismus sehr individuell. Es gibt Ausländer, die mit der Frage «Woher kommst du?» ein Problem haben, andere überhaupt nicht. Dabei spielt der Kontext oft eine wichtige Rolle. Zu generalisieren hilft niemanden. Ausserdem wird die Klassenfrage oft ausgeblendet: Wenn du etwa als Schweizer mit Migrationshintergrund aus einer wohlhabenden, urbanen Familie kommst, dann hast du es im Leben bestimmt einfacher, als du es als alleinerziehende, schlecht verdienende Schweizerin ohne Migrationshintergrund hättest. Wie privilegiert du im Leben bist, hat ebenso viel mit Geld wie mit der Herkunft zu tun.
Neben Rechtspopulisten regen Sie sich auch über linke, urbane Gebildete auf. Obwohl Sie selber ein Linker sind. Warum?
Vielleicht weil ich den akademischen Dünkel und das herablassende aus diesen Kreisen gut kenne. Ich weiss, wie das ist. Dieses Gefühl: Du gehörst nicht dazu.
Warum?
Mein Vater ist Glasmaler. Er passt in keine Schublade. Weil er etwas zwischen Handwerk und Kunst ist. Meine Mutter ist gelernte Coiffeuse. Ich habe in der Schule Sprüche gehört deswegen. Es gibt Menschen, die sagen: Eine Coiffeuse ist dumm und ungebildet. Aha, und jemand, der studiert hat, ist besonders intelligent und moralisch integer. Das ist alles Bullshit. Solche von Vorurteilen getriebenen Leute haben mich schon immer rasend gemacht. Genauso wie Leute, die sich für moralisch überlegen halten und in ihre Selbstgerechtigkeit verliebt sind.
Was macht Ihnen Angst?
Zum Beispiel, dass wir immer gläserner werden. In einer Welt, in der wir immer stärker überwacht werden, fühle ich mich nicht sicherer, sondern unsicherer. Der Blick nach China sollte uns eine Warnung sein: Viele Menschen dort fühlen sich frei. Sie sehen sich nicht so, wie wir im Westen über sie schreiben. Denn die meisten können reisen und konsumieren und machen, was sie wollen. Sie dürfen einfach niemals die Alleinherrscherpartei kritisieren. Ansonsten sind sie weg. Die freiwillige Selbstzensur, die in Fleisch und Blut übergeht, bis man nicht mehr merkt, dass man unfrei ist: Das erschreckt mich. Auch in der Schweiz gibt es zunehmend Überwachung. Und dass der Staat unsere elektronische Identität an Private auslagern will, halte ich für gefährlich. Deshalb sage ich Nein zum
E-ID-Gesetz.
Sprechen wir über Schönes. Sie schreiben auch Liebesgedichte.
Endlich! (Lacht.) Aber meine sind eher traurig.
Sie sind doch auch angezogen vom Schönen des Lebens.
Sicher, aber ich werde so selten zum Schönen befragt.
Was macht Sie glücklich?
Vieles! Meine Eltern, meine Freunde, die Natur, das Lesen, Konzerte, das Theater, das Essen, das Trinken. Gerade in schweren Zeiten sollten wir uns selbst viel mehr an das Gute und Schöne erinnern. Ach, wenn das nur so einfach wäre!
Worüber wissen Sie wenig?
Über die Börse. Eine Art Paralleluniversum, das uns regiert. Dieses perverse Wetten auf zukünftige Schulden und Kriege. Sehr abstrakt. Gar nicht mehr an reale Werte gebunden, und trotzdem bestimmt es unser Leben so immens. Ich will mich darin vertiefen, es verstehen. Aber nicht, weil ich ein schmieriger Bitcoin-Start-up-Millionär werden möchte, sondern damit ich mich danach ernüchtert dem Blümchenbetrachten zuwenden kann.
Jürg Halter, «Gemeinsame Sprache», Dörlemann Verlag
Der Berner Jürg Halter (40) rappte einst als Kutti MC. Heute ist er Schriftsteller und Dichter. 2018 erschien sein Romandebüt «Erwachen im 21. Jahrhundert», soeben der neue Gedichtband «Gemeinsame Sprache». Halter hat kein Smartphone, äussert sich aber oft und pointiert zum Weltgeschehen auf Twitter.
Der Berner Jürg Halter (40) rappte einst als Kutti MC. Heute ist er Schriftsteller und Dichter. 2018 erschien sein Romandebüt «Erwachen im 21. Jahrhundert», soeben der neue Gedichtband «Gemeinsame Sprache». Halter hat kein Smartphone, äussert sich aber oft und pointiert zum Weltgeschehen auf Twitter.