Kriminologin Julia Shaw (31) über das Böse im Menschen
«Die meisten haben irgendwann eine Mordfantasie»

Kriminologin Julia Shaw (31) hat ein Buch über das Böse im Menschen geschrieben. Bei der Recherche erfuhr die Deutsch-Kanadierin von einem Streit in ihrer Familie, der sie indirekt fast das Leben gekostet hätte.
Publiziert: 31.10.2018 um 12:51 Uhr
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Aktualisiert: 14.11.2018 um 22:50 Uhr
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Die Krimonologin Julia Shaw weiss, wieso wir uns manchmal falsch erinnern. Auch an Taten, die wir nie begangen haben.
Foto: Boris Breuer
Jonas Dreyfus

FrauShaw, Sie sind eine hochgefährliche Person.
Julia Shaw: Warum ­sollte ich das sein?

Weil Sie unschuldige ­Menschen davon überzeugen können, ein Verbrechen ­begangen zu haben.
In der Studie, auf die Sie an­spielen, wollte ich aufzeigen, wie leicht mit suggestiven ­Fragen falsche Erinnerungen in ein Hirn gepflanzt werden können. In einem Verhör kann so etwas ohne Absicht passieren, wenn der Polizist davon überzeugt ist, den Täter vor sich zu haben. Erst das ist gefährlich.

Wie gingen Sie beim Einpflanzen einer Erinnerung vor?
Der Proband glaubte, dass ich eine Studie zu Kindheits- und Jugenderinnerungen mache. Ich erklärte ihm, dass mir seine Eltern bereits ausführlich erzählt hätten, wie er als ­Jugendlicher eine Person mit ­einem Stein angegriffen und ver­letzt habe. Dann bat ich ihn, sich ­daran zu erinnern.

Schwierig vorstellbar.
Es sind kleine Schritte, die ans Ziel führen. Ich sage zum ­Beispiel: «Schliessen Sie die ­Augen. Stellen Sie sich vor, Sie sind wieder 14 Jahre alt. Sie sind in Ihrer Heimatstadt. Es ist Herbst. Wo waren Sie, als es ­passierte?» Wenn das Gegenüber antwortet, sage ich: «Genau so haben es mir Ihre Eltern erzählt.» Bereits nach drei Sitzungen erinnerten sich 70 Prozent der Probanden in allen ­Details an diesen Vorfall, der in Wahrheit nie stattgefunden hat.

Können Sie auch feststellen, ob eine Erinnerung falsch ist?
Wenn sich jemand an etwas ­erinnert, das vor dem Beginn seines dritten Lebensjahres ­passierte, ist die Erinnerung ­definitiv falsch. Sonst kann ich nur sagen, ob die Voraussetzungen, dass es sich um eine falsche Erinnerung handeln könnte,­ ­gegeben sind. Wenn sie zum ­Beispiel erstmals nach einer fragwürdigen Hypnosetherapie auftaucht, ist Vorsicht geboten.

Sie arbeiten als Gerichts­sachverständige. Um welche Fälle gehts da?
Meistens um Fälle von sexuellem Missbrauch. Auch dort ­analysiere ich, unter welchen Umständen die Aussage eines vermeintlichen Opfers zustande kam, und gebe dem Gericht im Saal eine Einschätzung.

Sexueller Missbrauch ist im Zusammenhang mit der #MeToo­Bewegung ein ­Thema. Die Psychologie­professorin Christine Blasey Ford sagte aus, dass der US-Richter Brett Kavanaugh versucht habe, sie zu ver­gewaltigen. Wie problematisch ist eine Aussage, wenn das ­Erlebnis so weit zurückliegt?
Wenn ich ein Gutachten zu Blasey Ford hätte schreiben müssen, hätte ich an ihrer Aussage nichts zu beanstanden gehabt. Schliesslich hat sie in den vergangenen ­Jahren mehreren Menschen, die ihr nahestehen, vom Erlebnis erzählt. Die Erinnerung war nicht erst ­aufgetaucht, als Kavanaugh fürs Oberste Gericht kandidierte.

Verblassen Erinnerungen mit der Zeit?
Manche schon. Jeder von uns hat aber auch Erinnerungen, die ihn ein Leben lang begleiten. Meistens geht es um traumatische Erleb­nisse, an die man sich eigentlich gar nicht erinnern will.

Sprechen wir über Ihr neues Buch. Es heisst «Böse». Ein Wort, das Sie eigentlich nicht mögen. Warum nicht?
Ich glaube, dass wir mit seiner ­Hilfe Menschen etikettieren, die wir nicht verstehen wollen. Wir ­grenzen uns ab und sagen: Ich bin gut, du bist ein Monster. Wir entmenschlichen die Person und machen jeden Versuch zu­nichte, eine Erklärung dafür zu ­finden, ­warum jemand etwas Schlimmes getan hat.

Ihr Buch behandelt auch ­amüsante Aspekte des Bösen im Menschen. Zum Beispiel die sogenannte «cute aggression». Worum geht es dabei?
Die «cute aggression» ist ein ­Reflex, den viele von uns haben, wenn sie etwas sehr Niedliches wie ein Baby oder einen Hundewelpen ­sehen. Man sagt dann Dinge wie: «Ich möchte dich am liebsten ­auf­fressen.» Oder: «Ich möchte dich am liebsten zerdrücken.»

Warum tun wir das?
Unser Gehirn wird beim Anblick ­eines kleinen Kindes oder eines jungen Tieres von einem Gefühl der Fürsorge überwältigt. Weil ihm das zu viel wird, versucht es, mit einem Gefühl der Aggression entgegen­zuwirken. Ähnliches passiert, wenn wir aus Freude weinen.

Im Gehirn entscheidet sich ­offenbar auch, wie viel Empathie jemand hat, sprich: wie gut sich jemand in einen anderen Menschen hineinversetzen kann. Bei Psychopathen sind Teile des Gehirns, in denen diese ­Fähigkeit verankert ist, weniger aktiv als bei anderen. Man geht davon aus, dass das angeboren ist. Was bedeutet das für den ­Betroffenen?
Dass es ihm leichter fällt, etwas Schlimmes zu tun. Das heisst aber noch lange nicht, dass er es auch wirklich macht. Die meisten Psychopathen werden nie straffällig.

Wie merkt man, dass man wenig Empathie hat?
Wenn man sich zum Beispiel ein ­Video ansieht von jemandem, der weint, und dabei überhaupt nichts fühlt.

Ist man dann ein Psychopath?
Vielleicht.

Ist Empathie lernbar?
Wahrscheinlich ist lernbar, in ­welchen Situationen wir Empathie zeigen. Empathie ist auch eine ­Entscheidung.

Inwiefern?
Manche Menschen sehen Flüchtlinge in den Medien und denken sich: Das könnte ich sein! Andere haben vielleicht im ersten Moment Mitleid, denken sich dann aber: Die sind anders als ich! Es ist ein ähnlicher Mechanismus, wie wenn wir bei Straftätern bewusst sagen: Diesen Menschen schulden wir ­keine Empathie.

Warum ist Empathie im Zusammen­hang mit Straftätern wichtig?
Weil sie uns darüber nachdenken lässt, wie es ihnen geht. ­Nur so ­können wir vielleicht eine Therapie anbieten, die verhindert, dass ­jemand rückfällig wird. Damit tun wir uns als Gesellschaft einen grossen Gefallen.

Als Sie sich mit der Vererbung von krimineller Energie ­beschäftigten, stiessen Sie bei Ihren ­eigenen Vorfahren auf eine ­makabre Geschichte.
Von meiner Mutter erfuhr ich, dass mein Grossvater seine ganze Familie ermorden wollte. Betrunken erzählte er Familienfreunden, dass er die Waffen schon gepackt habe und am nächsten Morgen zum Haus fahren würde, wo sich Frau und Kinder aufhielten. Am nächsten Morgen tauchte er tatsächlich bewaffnet dort auf. Meine Mutter war zum Glück schon weg, weil ihre Mutter gewarnt ­worden war. Sonst gäbe es mich heute wohl nicht.

Sie erzählen das so locker. Sind Sie nicht erschrocken?
Ich war eher erstaunt, dass ich dreissig Jahre nichts von diesem dramatischen Vorfall erfahren habe. Ich hatte mich immer nur ­gewundert, warum nie jemand über meinen Grossvater sprach.

Das würde jetzt eigentlich ­bedeuten, dass Sie doch eine hochgefährliche Person sind.
Vielleicht funktioniert mein Hirn ähnlich wie das meines Gross­vaters. Ich würde mich deswegen aber nicht als Psychopathin ­bezeichnen. Auch meinen Gross­vater nicht. Er war wahnsinnig ­wütend auf meine Grossmutter und hatte seine Impulse nicht unter Kontrolle. Das kann ich von mir nicht behaupten.

Sind Menschen, die sich ­vor­stellen, jemanden zu töten, gefährdet, es eines Tages zu tun?
Die meisten von uns haben irgendwann eine Mordfantasie, denken im nächsten Moment aber gleich an die Konsequenzen einer solchen Tat. Damit unterscheiden wir uns von unseren Urvorfahren, die in diesem Moment einfach jemandem die Keule auf den Kopf gehauen hätten. Im Grunde genommen ist das Durchdenken einer Mordfantasie die ultimative Form der Impulskontrolle.

Ein Kapitel Ihres Buches widmet sich der Psychologie der Unheimlichkeit. Warum gruseln wir uns vor manchen Menschen?
Weil wir sie als bedrohlich ­wahrnehmen.

Forscher haben einen Katalog mit unheimlichen Merkmalen ­erstellt. Dazu gehören fettiges Haar, lange Finger und ­Menschen, die sich häufig die Lippen lecken oder an un­­vor-hergese­henen Stellen lachen. Das klingt jetzt nicht unbedingt bedrohlich, oder?
Es geht darum, dass Dinge wie ­fettige Haare nicht der Norm entsprechen. Wir waschen uns ja die Haare! Wenn es jemand nicht tut, könnte das ein Zeichen dafür sein, dass er anders ist als wir. Etwas könnte mit ihm nicht stimmen. ­Diese Art zu denken ist nicht gut.

Warum?
Wir meinen, wir könnten uns auf solche Indizien verlassen, wenn wir entscheiden, ob wir jemandem ­vertrauen. Unser Bauchgefühl liegt jedoch oft ganz falsch. Wir lassen Menschen ausscheiden, die uns guttun würden, und benachteiligen sie unfairerweise.

Oder wir vertrauen Menschen einzig und allein deshalb, weil sie gut aussehen.
Genau. Ein Beispiel dafür ist ­Jeremy Meeks, der vor ein paar Jahren wegen illegalen Waffen­besitzes und schweren Diebstahls verhaftet wurde. Das Einzige, was die Öffentlichkeit an ihm interessierte, waren seine blauen Augen. Sein Polizeifoto verhalf ihm sogar zu einem Modelvertrag.

Offenbar empfinden die meisten ­Erwachsenen den Clown als ­unheimlichsten Beruf. Warum ist dem so?
Er sieht anders aus als jeder Mensch und agiert total un­berechenbar. Der Inbegriff des Aussenseiters.

Eigentlich sollte er uns ja zum ­Lachen bringen.
Viele Leute finden Clowns spätestens seit John Wayne Gacy gar nicht mehr lustig, der in den 1970er-­Jahren 33 Morde beging. Er ging als Killer-Clown in die Geschichte ein, weil er an Strassenfesten als Clown verkleidet Kinder unterhielt. ­Seither nehmen Horrorfilme das Thema immer wieder auf.

Wie schaffen Sie es bei solchen Themen eigentlich, den Glauben an das Gute im Menschen nicht zu verlieren?
Ab und zu verzweifle ich schon ein bisschen an dem, was sich ­Menschen gegenseitig antun. Etwa wenn es um Pädophilie oder ­moderne Sklaventreiberei geht. Aber: Wenn man die Menschlichkeit lange genug sucht, findet man sie immer. Selbst in den schrecklichsten Taten.

Böse im Geschäft: Julia Shaw

Kriminologin Julia Shaw kam in Köln zur Welt und wuchs in Kanada auf. ­Soeben erschien ihr zweites Sachbuch «Böse. Die Psychologie ­unserer Abgründe», das es bereits auf die «Spiegel»-­Best­seller-Liste ­geschafft hat. Ihr erstes Buch über falsche Erinnerungen wurde in 18 Sprachen übersetzt. Die Deutsch-Kanadierin ist Referentin und Wissenschaftlerin in der Abteilung für Psychologie am University ­College London. Als Expertin berät sie Polizei und ­Justiz in deutsch- und englisch­sprachigen Ländern. 2017 gründete sie im Silicon Valley das Start-up Spot, das mit Hilfe von künstlicher Intelligenz versucht, gegen Diskriminierung in der Wirtschaft vorzugehen. Shaw hat einen Partner, den sie zum Spass schon drei Mal ­inoffiziell geheiratet hat.

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