«Hass zerstört nur dich selbst»
Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende

Eines der bewegendsten Bücher des Jahres stammt von Lilly Maier. Das Leben der 26-jährigen Historikerin aus Wien wäre ganz anders verlaufen, wäre sie nicht in der ehemaligen Wohnung eines Holocaust-Überlebenden aufgewachsen.
Publiziert: 24.12.2018 um 16:23 Uhr
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Aktualisiert: 04.01.2019 um 09:17 Uhr
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Arthur Kern 1941 mit dem Kindertransport vor der Abreise aus Frankreich. Er steht hinter dem grossen Mädchen rechts.
Jonas Dreyfus

Lilly Maier ist elf Jahre alt, als sie Arthur Kern zum ersten Mal sieht. Ihre Mutter hatte sie auf diesen Mann aus Amerika vorbereitet, der zu ihnen nach Hause kam. Arthur Kern hatte gefragt, ob er das dürfe, denn in derselben Wohnung in Wien, in der Lilly Maier mit ihrer Mutter lebte, verbrachte er die ersten zehn Jahre seines Lebens. Dann schickten ihn seine Eltern ins Ausland.

Arthur Kern war zu Lebzeiten «ein Kind». So nennen Amerikaner Juden, die ein sogenannter Kindertransport vor den Nazis in Sicherheit brachte. 1938 verliess Oswald «Ossi» Kernberg, wie er früher hiess, Österreich als einziges Mitglied seiner vierköpfigen Familie. Zuerst kam er mit anderen jüdischen Kindern nach Frankreich, dann in die USA. Seine Eltern und sein Bruder wurden von den Nationalsozialisten ermordet. 

Zurück zur elfjährigen Lilly 
Maier, die von Arthur Kern in ihrer Wiener Wohnung besucht wird. Dass er ein Mädchen im selben 
Alter kennenlernt, in dem ihn schreckliche Umstände aus seiner Kindheit gerissen hatten, ist für 
ihn beglückend. Er ernennt Maier ­kurzerhand zu seiner «österreichischen Enkelin». Sie spürt, wie wichtig sie für ihn ist.

Verschollene Unterlagen tauchen auf

Seine Geschichte beschäftigte 
sie so sehr, dass Maier bei einem Projekt mitmacht, mit dem Österreich den deportierten Juden ein Gesicht geben will. Maier recherchiert die Lebensgeschichte von Arthur Kerns Mutter Frieda. Was jetzt folgt, ist ein unglaublicher ­Zufall. Er ist ausschlaggebend für Maiers Karriere als Historikerin.

In der Zeitung «Kurier» erscheint ein Artikel über Maiers Recherche. Er zeigt die Schülerin, wie sie ein Foto von Kerns Mutter Frieda in die Kamera hält.
Eine 83-jährige Leserin aus Wien erkennt die abgebildete Frau. Frieda war eine Bekannte von ihr. Sie hat immer noch die Dokumente von Arthur Kerns Familie bei sich zu Hause, die sie vor den Nazis versteckte. So beginnt sich die grosse Lücke, die Arthur Kern, damals 74, im Wissen über seine Vorfahren hatte, dank Lilly Maier zu schliessen.

«Arthur und Lilly – Das Mädchen und der Holocaust-Überlebende» heisst das jüngst bei Heyne erschienene Sachbuch, in dem Maier die ungewöhnlichen Folgen des ungewöhnlichen Zusammentreffens mit Kern beschreibt. Maier erforschte für ihr Buch Hintergründe und Details der Transporte, die 15 000 Kindern 
das Leben gerettet hatten. Die Ergebnisse verknüpft sie mit Arthur Kerns Biografie und der eigenen. 
Es gelingt ihr, zutiefst traurige und höchst hoffnungsvolle Ereignisse 
in einen Kontext zu rücken.

Freunde als Ersatzfamilie 

Ermutigend wirkt der Umgang Kerns mit der Vergangenheit, von der er sich nicht kaputt machen liess. Er wurde in Kalifornien ein erfolgreicher Raketeningenieur, heiratete und gründete eine Familie. «Du musst den Hass im Herzen besiegen», sagte er zu Maier, als er sie kennenlernte. «Ich habe schon früh erkannt, dass Hass niemandem etwas bringt. Hass zerstört 
nur dich selbst.»

Die Geschichte von Lilly und Arthur ist eine Lektion in Sachen Freundschaft. Für Kern waren Freunde ein Leben lang Ersatz­­
familie. Niemals wieder wollte er 
jemanden, der ihm etwas bedeutete, aus den Augen verlieren. 
«Du bist eines der besten Dinge, die in meinem Leben passiert sind», sagte er zu Maier, kurz bevor im Jahr 2015 starb. Arthur Kern wurde 87 Jahre alt. 

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