«Leute fragen sich, ob ich ein richtiger Schweizer Autor bin»
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Joël Dicker im Interview:«Leute fragen sich, ob ich ein Schweizer Autor bin»

Erfolgsautor Joël Dicker im Interview
«Ich glaube nicht an die 
Macht der Beschreibung»

Der Genfer Joël Dicker (33) ist derzeit der erfolgreichste literarische Export der Schweiz. Mit Schriftstellertypen wie Max Frisch lässt er sich aber nicht vergleichen.
Publiziert: 31.03.2019 um 11:58 Uhr
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Aktualisiert: 01.04.2019 um 16:06 Uhr
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Erfolgsschriftsteller Joel Dicker (33) weiss, wie er sich inszenieren muss. Professionell posiert er in seinem Genfer Lieblingslokal, einem authentischen italienischen Comestible.
Foto: Darrin Vanselow
Christiane Binder

Er wohnt in Genf und kommt per pedes ins Saveurs d’Italie am Boulevard Pont d’Arve. Allein, ohne Verlagsleute, ohne sonstige Entourage. Ein attraktiver Mann, so wie hippe Männer heutzutage aussehen. Gross, schlank, sauber getrimmte Bartstoppeln, apart aufgeraute Stimme. Sein ­Auftritt: sympathisch beiläufig. ­Unarrogant.

Solche Kommentare über sich kann Joël Dicker eigentlich nicht leiden. Zu deskriptiv, findet er. Er steht nicht auf Beschreibungen. Sie sind ihm zu explizit. Ausserdem, was tun Äusserlichkeiten zur Sache? Lieber redet Joël Dicker über seine Romane.
Aber da muss er durch: Klar will das Publikum wissen, wie er wirkt. Schliesslich ist er ein Prominenter. Keiner verkauft derzeit mehr ­Bücher in der Schweiz als er.
In Frankreich ist der 33-jährige Genfer der am meisten gelesene frankofone Autor 2018. Ein internationaler Star, eine grosse Nummer mit Millionen-Auflagen, seine Romane wurden in 40 Sprachen übersetzt. Der neue Roman «Das Verschwinden der Stephanie Mailer» eroberte vom Fleck weg Platz 1 der französischen Bestsellerliste. Und wer sich im Internet seinen Werbe-Clip für die französische ­Automarke Citroën («Eine einzigartige Reise») ansieht, entdeckt, dass der Mann auch noch über Hollywood-Qualitäten verfügt. Er hat ja mal Schauspiel studiert.
Interviews wie dieses handhabt er mit professioneller Gewandtheit. Am Treffpunkt, einem charmanten italienischen Comestible, seinem Genfer Lieblingslokal, muss ihn der Fotograf nicht gross bitten. Dicker kennt seine Schokoladenseite, dreht sich hierhin und dorthin, umstandslos, easy, alles schnell im Kasten.

Öffnet Ihnen Ihr gutes Aussehen viele Türen?
Haben Sie keine bessere Frage auf Lager?

Zweiter Versuch: Sie bezeichnen sich ausdrücklich als Schweizer Schriftsteller. Was bedeutet das?
Ich bin in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Ich wohne an meinem Geburtsort Genf. Also bin ich ein Schweizer Schriftsteller.

Denkt man da nicht eher an ­einen knorrigen Kerl vom Schlag eines Max Frisch, der sich ­permanent den Kopf über die ­Befindlichkeit seines Landes ­zerbricht? Ihre Bücher spielen ­jedoch an der amerikanischen Ostküste in einem quasi ­luftleeren, internationalen Raum. Man hat sogar behauptet, Sie schreiben «amerikanische ­Romane». Wo ist bei Ihnen das Schweizerische?
Ich finde das merkwürdig. Überall in der Welt bin ich der «Swiss guy». Die Leute mögen es, wenn sie wissen, woher ein Autor kommt. Nur in der Schweiz zieht man in Zweifel, ob ich echt schweizerisch sei. Vielleicht kommt das daher, dass man früher gedacht hat, ein Schweizer Autor sei verpflichtet, aus der und über die Schweiz zu schreiben. Aber Roger Federer ist doch auch ein Schweizer, obwohl er praktisch nie in der Schweiz spielt.

Bei uns handelt man Sie immerhin als «Federer der Literatur». Sie werden international gelesen und reisen durch die ganze Welt. Wie unterscheidet sich das ­Publikum?
In der Schweiz grübelt man darüber nach: Ist der Dicker jetzt ein Schweizer Schriftsteller? In Frankreich will man wissen, ob ich Thriller schreibe oder in welches andere Genre man mich pressen könnte. 
In Mexiko interessieren sich die ­Leser für Passagen, wo es ihrer Meinung nach um Gewalt gegen Journalisten geht. In Kolumbien liest man bestimmte Stellen als Thematisierung von Gewalt gegen Frauen. Jede ­Kultur liest was anderes heraus.

Diese Leute haben Ihre Bücher also sehr genau gelesen?
Ja. Vor allem in weniger reichen Ländern wie zum Beispiel in Südamerika wählt man ein Buch sehr sorgfältig aus. Man hat ja nicht so viel Geld. Kauft man ein Buch, will man es auch mit Sicherheit lesen.

Ihre Romane spielen alle in den USA, genauer gesagt in Neuengland. Warum ausgerechnet dort?
Ich habe als Kind sehr viel Zeit in Maine verbracht, bei Verwandten. Ich fand es ganz toll, weg zu sein von Genf. Amerika war für mich das Land der Weite, der grossen Träume, der ungeahnten Möglichkeiten.

Die Schweiz kommt in Ihren ­Büchern nie vor.
Die einzige Aufgabe des Autors ist es, eine glaubwürdige Story zu ­schreiben. Das reicht.

Ihr neuer Roman «Das Verschwinden der Stephanie Mailer» hat in der deutschen Fassung über 600 Seiten, eine Unzahl von Protagonisten und ist ­dennoch sehr klar strukturiert. Erörtern Sie während des ­Schreibens mit anderen ­Menschen den Plot?
Nein, das geht gar nicht. Dann wird alles unklar. Je mehr ich darüber rede, desto chaotischer wird alles in meinem Kopf.

Sie schreiben einen atemlosen Sound und treiben die Handlung der «Stephanie Mailer» ­hauptsächlich durch Dialoge ­voran. Auf Beschreibungen ­verzichten Sie weitgehend. 
Hat das einen Grund?
Ich glaube nicht an die Macht der ­Beschreibung. Wenn ich schreibe, «das ist ein schöner Platz», dann stellt sich jeder etwas anderes darunter vor. Das ist zu viel Informa­tion, das ist nicht präzise. Meine ­Leser sollen die Charaktere direkt ­erleben, ohne überflüssig Deskriptives. Ein Dialog zwischen zwei Personen ist eine Interaktion. Eine Interaktion sagt mehr über die Personen aus als die Beschreibung einer Szene. Man kann doch so viel sagen über eine Person, ohne zu beschreiben, ob sie jetzt blond ist oder ob sie braune Haare hat.

Warum sind Ihre Bücher so ­überaus erfolgreich?
Vielleicht, weil ich den Leserinnen und Lesern Raum gebe, Teil der Story zu sein. Der Zweck der Literatur ist für mich, Menschen in die Lage zu versetzen, in ein anderes Leben einzutauchen.

Sie schreiben auf Französisch. Sie sprechen Englisch so gut 
wie Ihre Muttersprache. 
Sie reisen durch die ganze 
Welt. Kann man sagen, Sie sind 
der erste ­Schweizer Schrift­steller, der zur Globalisierung 
passt?
Es ist auf jeden Fall ein Fehler zu glauben, die Welt wäre noch dieselbe wie die, als ich selbst noch jung war. Im Moment wächst eine völlig neue Generation heran. Ich bin die letzte Generation, die ohne iPhone und Internet aufgewachsen ist. Heute hängt jeder am iPhone – und bewegt sich auf einem anderen ­Planeten. Abgekoppelt von der Welt.

Ist das Ihrer Meinung nach gut oder schlecht?
Einerseits ist es gut. Denken Sie, wie leicht heute das Reisen ist. Als ich ein Kind war, ging man nach Italien oder nach Frankreich. Heute ist man in der ganzen Welt zu Hause. Vor zwei Jahren war ich in Mailand und hatte meinen Pass verloren. An der Grenze habe ich einfach mein Bild auf dem iPhone gezeigt, und es hat funktioniert. Das ist doch verrückt, oder? Für Europa ist diese Entwicklung ein ganz grosses Ding.

Was ist das Schlechte daran?
Dass die Gewalt allgegenwärtig ist. Das Internet ist voller Gewalt, und alles wird explizit gezeigt. Das ­Publikum will alles sehen. Es will das Bild. Vergleichen Sie das mit den News vor 20 Jahren. Da war auch vieles brutal. Aber man hat das meiste nur gedruckt gesehen. Heute zeigen sogar die seriösen Medien Gewalt. Auch der Zugang zu Pornos ist heute ganz leicht. Ich frage mich: Was macht das mit der neuen Generation?

Was glauben Sie?
Ich kann nur sagen: Das ist etwas völlig Neues. Heute hat jeder durchs Internet Zugang zu allen ­Arten von Sex, auch Kinder. Als ich klein war, hat man auf diesem Gebiet höchstens mal etwas heimlich vom älteren Bruder erfahren. Zugang zu Pornos hatten Kinder nicht. Früher waren Kinder zu Hause sicher. Heute bricht das Internet in diese einst geschützte Sphäre ein. Mit Sex, mit Mobbing, mit Gewalt. Als Vater beschäftigt mich das stark.


Man merkt, dass das ein Thema ist, das ihn umtreibt. Joël Dicker spricht routiniert, konzentriert und informiert, er liest noch – ganz ­altmodisch – eifrig Zeitungen. Dass 
er neuerdings Vater eines kleinen Sohnes ist, ist ihm wohl nur ­gesprächsweise herausgerutscht. Denn obwohl es anregend ist, sich mit ihm zu unterhalten – er ist klug und gleichzeitig unbekümmert –, surft er an persönlichen Aussagen elegant vorbei. Er lebt in Genf, er hat einen Sohn, dessen Name er nicht gedruckt sehen will («Was tut das zur Sache?»), das darf man ­wissen. Mehr nicht. Die intensive Nabelschau, das Gründeln in Menschheitsproblemen, für so ­viele andere Schriftsteller ein ­Lebenselixier, meidet er. Interviews terminiert er, amerikanisch speditiv, auf eine Stunde. So auch heute. Abrupt packt er seine ­Sachen zusammen, «it was great, but I got to go».

Eine letzte Frage noch: Haben 
Sie nicht wenigstens eine kleine ­Botschaft an Ihr Publikum?
Ich möchte die Menschen dazu bringen zu träumen. Wer träumt, kann die Welt besser machen, hat bessere Beziehungen, kümmert sich vielleicht mehr um andere.

Der Vielseitige

Joël Dicker, Sohn einer Buchhändlerin und eines Französischlehrers, wurde 1985 in Genf ­geboren. Als junger Mensch zeichnete er viel, interessierte sich für Pop-Rock und ­Heavy Metal, spielte Schlagzeug. Mit zehn Jahren schon gab er eine Tier-Zeitschrift heraus und wurde für sein umweltpolitisches Engagement mit dem Tierschutzpreis Prix Cunéo pour la protection de la nature ausgezeichnet. Mit 18 Jahren zog es ihn nach Paris, wo er am Cours Florent ein Jahr lang Schauspiel ­studierte. Nach seiner Rückkehr begann er an der Universität Genf Jura zu studieren. Das Studium schloss er 2010 erfolgreich ab und begann zu schreiben.

Joël Dicker, Sohn einer Buchhändlerin und eines Französischlehrers, wurde 1985 in Genf ­geboren. Als junger Mensch zeichnete er viel, interessierte sich für Pop-Rock und ­Heavy Metal, spielte Schlagzeug. Mit zehn Jahren schon gab er eine Tier-Zeitschrift heraus und wurde für sein umweltpolitisches Engagement mit dem Tierschutzpreis Prix Cunéo pour la protection de la nature ausgezeichnet. Mit 18 Jahren zog es ihn nach Paris, wo er am Cours Florent ein Jahr lang Schauspiel ­studierte. Nach seiner Rückkehr begann er an der Universität Genf Jura zu studieren. Das Studium schloss er 2010 erfolgreich ab und begann zu schreiben.

Vier Romane in acht Jahren

Joël Dickers vierter Roman, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», erscheint am 2. April beim Piper-Verlag auf Deutsch. In Frankreich steht es bereits auf Platz  1 der Bestsellerliste. Auch seine drei Vorgänger waren Erfolge. Nach «Les derniers jours de nos pères« (2010) wurde er vor allem in Frankreich für «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» (2012) und «Die Geschichte der Baltimores« (2016) als literarische Sensation gefeiert – belohnt mit dem Grand Prix du Roman der Académie française und dem Prix Goncourt des Lycéens. «Die Geschichte der Baltimores» führt immer noch die französischen Bestsellerlisten an.

Sein vierter Roman, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», erscheint am 2. April auf Deutsch. Es geht um die Aufklärung eines Verbrechens nach
20 Jahren.

Joël Dickers vierter Roman, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», erscheint am 2. April beim Piper-Verlag auf Deutsch. In Frankreich steht es bereits auf Platz  1 der Bestsellerliste. Auch seine drei Vorgänger waren Erfolge. Nach «Les derniers jours de nos pères« (2010) wurde er vor allem in Frankreich für «Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert» (2012) und «Die Geschichte der Baltimores« (2016) als literarische Sensation gefeiert – belohnt mit dem Grand Prix du Roman der Académie française und dem Prix Goncourt des Lycéens. «Die Geschichte der Baltimores» führt immer noch die französischen Bestsellerlisten an.

Sein vierter Roman, «Das Verschwinden der Stephanie Mailer», erscheint am 2. April auf Deutsch. Es geht um die Aufklärung eines Verbrechens nach
20 Jahren.

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