Er hat es schon wieder getan. Der britische Autor Philip Pullman (70) fesselt uns erneut mit einer fantastischen Geschichte und knüpft mit seinem aktuellen Buch «Über den wilden Fluss» an den Erfolg seiner ersten Trilogie an.
Die Geschichte spielt in Oxford in einem Parallel-universum. Der grösste Unterschied zu unserer Welt: Der Gemütszustand der Menschen, Dæmon genannt, ist stets ersichtlich, denn die Seele des Menschen sitzt der jeweiligen Person in Tiergestalt auf der Schulter, streicht ihr um die Beine oder fliegt ihr hinterher. Es ist dasselbe Universum, in dem die erste Erfolgsserie des britischen Autors spielte. Auch in «Der goldene Kompass – die Trilogie» heisst die Hauptperson Lyra Belacqua. Pullman verbindet in seinem Werk gesellschaftsrelevante Themen mit einem wahnwitzigen Plot.Religions- und Gesellschaftskritik sowie physikalische Theorien kombiniert er mit einer Lehre über das menschliche Bewusstsein. Damit hat er 17 Millionen Leser in seinen Bann gezogen und etablierte sich nach J. K. Rowling («Harry Potter»-Serie) als einer der einflussreichsten Jugendbuchautoren weltweit.
Die neue Handlung – wiederum das erste von drei Büchern – spielt zehn Jahre vor der ersten Trilogie. Lyra Belacqua ist ein Baby, das von Nonnen versteckt und bewacht wird. Denn Lyra hat illustre Eltern: Ihr Vater Lord Asriel, ein Entdecker und Wissenschaftler, bereitet ein Experiment vor, das die Grenzen zwischen den Paralleluniversen einreissen soll. Er untersucht das geheimnisvolle Rusakow-Feld, ein physikalisches Phänomen, welches besagt, dass Erkenntnis an Materie gebunden ist.
Wohin die Macht der Religion führen kann
Mächtiger und schrecklicher ist Lyras Mutter, die wunderschöne Lady Coulter, Vorsitzende der religiösen Regierungs-Instanz Magisterium. Das Magisterium hat den christlichen Ursündenfall verinnerlicht: Das Streben des Menschen nach Erkenntnis ist böse und soll rückgängig gemacht werden. Dafür macht das Magisterium Experimente an Kindern. Und um Lyra gibt es eine Prophezeiung: Sie soll die Macht des Magisteriums dereinst brechen. Kein Wunder, versteckt Lord Asriel seine Tochter.
In Oxford lebt auch der elfjährige Malcolm Polstead, die wichtigste Person des ersten Bandes der neuen Trilogie und Oxford-Schüler. Der intelligente Sohn des lokalen Gasthausbesitzers ist ein gern gesehener Gast bei den Nonnen und weiss deshalb auch von der versteckten Lyra. Malcolm gerät somit in den Fokus diverser politischer und religiöser Fraktionen – und da im Pullman-Universum Bewusstsein und Materie eins sind, gerät auch England aus den Fugen:
Nahezu die gesamte Landschaft versinkt in einem reissenden Strom. In einem Kanu treiben darauf Malcolm, seine Freundin Alice und das Baby Lyra, das sie zufällig vor den Fluten retten konnten. Sie versuchen, Lyra zu ihrem Vater nach London zu bringen – und werden dabei nicht nur vom Magiste-rium verfolgt, sondern auch von einem Mann mit einem unheimlichen Hyänen-Dæmon und von manch anderen Wesen.
Das alles schafft neben enormer Spannung durch den rasanten Plot eine genauso grosse intellektuelle Spannung: Kaum einem gelingt es so gut wie Pullman, Fehlbarkeiten unserer fragilen Gesellschaft mit so reicher Fantasie zu verbinden.
«Über den wilden Fluss», Neuerscheinung, 560 Seiten, Carlsen Verlag