Forscher Frank Trentmann (52) weiss, warum wir immer mehr kaufen
«Der Konsum markiert unseren Platz in der Gesellschaft»

Geschichtsprofessor und Konsum­Forscher Frank Trentmann (52) weiss, warum wir immer mehr kaufen und warum uns das zugleich glücklich und unglücklich macht.
Publiziert: 10.10.2017 um 21:38 Uhr
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Aktualisiert: 12.09.2018 um 11:39 Uhr
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Geschichtsprofessor und Konsumforscher Frank Trentmann.
Foto: Mark Chilvers
Interview: Franziska K. Müller

SonntagsBlick: Herr Trentmann, weist der Umstand, dass heute fast alle mehr oder weniger das Gleiche tragen und dieselben Dinge konsumieren, ­eigentlich auf eine gewisse ­Verblödung hin?
Frank Trentmann:
In Konsumgesellschaften tragen tatsächlich ­viele Menschen Kleider, die auf den ersten Blick identisch aussehen. ­Allerdings kann man bei näherer Betrachtung schnell feststellen, wie unterschiedlich und differenziert sich Verbraucher dennoch kleiden. Jeans mit verschiedenen Schnallen, Rissen, Fransen und Taschen; Schuhe in den verschiedensten ­Farben, Mustern und mit diversen Profilen. Allein die Farbenpracht auf einer heutigen Einkaufsstrasse hätte unsere – in den Farben Grau und Braun gekleideten – Vorfahren im 15. Jahrhundert verblüfft.

Herr und Frau Schweizer geben rund 1500 Franken pro Jahr und Person für Kleider aus. Das entspricht etwa acht Hemden, ­einem Wintermantel, ­einer Jacke, fünf Hosen, sechs ­T-Shirts, vier Pullovern, zehn Paar Socken, zehn Unterwäschegarnituren und einem Abendkleid. Ein Grossteil landet nach kurzer Zeit in der ­Altkleidersammlung. Wie ist ­dieses Verhalten zu erklären?
Es zeigt, dass Schweizer Verbraucher selbst beim Wegwerfen noch daran denken, sie könnten etwas Gutes tun.

Warum kaufen wir nicht von ­Anfang an weniger?
Weil die Kleider ein wesentliches Mittel sind, mit dem wir unsere ­Persönlichkeit und Identität gestalten und immer wieder verändern. Ob wir in die Oper gehen oder zu den Rolling Stones, wie wir uns einrichten und was wir essen – all dies erklärt, wer wir sind und wie wir wahrgenommen werden wollen.

Macht uns das glücklich?
Manchmal und dann auch wieder nicht. Vor allem aber markiert der Konsum unseren Platz in der Gesellschaft.

Sie beschreiben in Ihrem Buch «Herrschaft der Dinge» ein ­facettenreiches Bild des ­Konsumenten über sechs ­Jahrhunderte hinweg. Welches waren die wichtigsten Stationen auf dem Weg in die heutige ­Konsumgesellschaft?
Es gibt zwei wichtige Entwicklungen, die miteinander verzahnt ­waren: die zunehmende Zirkulation von Waren, darunter viele neue exotische Güter wie Kaffee, Schokolade und Baumwolle. Dieser Wandel vollzog sich in der Ära der grossen europäischen Imperien im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Entscheidend war dann allerdings der kulturelle Wandel in den Gesellschaften. Er führte dazu, dass sich die Menschen den Dingen ­öffneten und Konsum als Bereicherung der eigenen Persönlichkeit und der ­Zivilisation betrachteten.

Wann entstand der Begriff ­Konsument?
Interessanterweise erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Eine übergreifende Gruppe von Bürgern betonte damals die kollektive soziale Pflicht der Verbraucher als Teil der eigenen Wahl und Kaufentscheidung.

Und wo stehen wir heute?
Wir befinden uns in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite pflegen wir den Konsum und die Möglichkeit, was wir haben wollen und was nicht, weiterhin als wichtigen Teil einer freiheitlichen, demokratischen Gesellschaft. Auf der anderen Seite sehen wir auch, dass uns die lange, grosse Konsumwelle weiter im Griff hat, dass sie die ­Umwelt zerstört und nicht nachhaltig tragbar ist.

Ist die immer grösser werdende Herrschaft der Dinge nicht zu stoppen? Ist sie sogar eine ­natürliche und automatische Entwicklung?
Nicht à priori. Unsere Alltagsrou­tinen, unsere Mobilität, unsere Vorstellung von Komfort, was «normal» ist und die daraus resultierenden Konsumgewohnheiten sind Resultate historischer Prozesse. Aber ebenso häufig sind sie auch von staatlicher Politik und ebensolchen Interventionen beeinflusst.

Früher war der Konsum der Elite vorbehalten, heute will und hat auch der Sozial­hilfeempfänger einen Flachbildschirm und ­Turnschuhe von Nike: Was ist geschehen?
Bereits im 15. Jahrhundert finden wir bei Handwerkern in Venedig und Florenz eine zunehmende Anzahl von Konsumgütern, wie feines Besteck, orientalische Teppiche, und eine grösser werdende Garderobe. Und im 18. Jahrhundert tranken Arbeiter in London und Amsterdam ­exotischen Kaffee oder Tee aus ­Porzellantassen. Was sich insbesondere in den 1950er- bis 1970er-Jahren verändert hat, ist, dass der Staat in den reichen Industriegesellschaften einen immer grösser werdenden Teil des Bruttosozialproduktes durch Sozialausgaben an die Bevölkerung verteilte. Dadurch wurden auch ärmere und benachteiligte Gruppen auf die Bühne des Massenkonsums ge­hoben und konnten sich nun entsprechende Waren leisten.

Einerseits sind die Ansprüche gestiegen, andererseits gibt es heute fürs gleiche Geld einfach mehr als früher?
So ist es sicher, und auch viele ­Rabatte und Sonderangebote regen zum Grosseinkauf an. Technische Geräte, die so designt sind, dass sie bald wieder kaputt gehen, und neue Software, die das alte Gerät nutzlos macht, fördern die Konsumwelle zusätzlich.

Welchen Einfluss haben Werbung und Marketing auf die Art und Weise, wie wir konsumieren?
Natürlich versuchen Firmen und Werber uns zu beeinflussen und zum Konsum gewisser Waren zu ­ermuntern. Aber wir wissen heute auch, dass Verbraucher nicht einfach passive Sklaven der Industrie sind. Man muss also eher von ­einem ständigen Wettlauf zwischen der Industrie und den Verbrauchern sprechen.

Ist der Massenkonsum ein Grund, warum die Luxus­industrie derart boomt?
Ja, doch Luxus ist nie absolut, sondern relativ. Zudem gibt es auch immer Bereiche, in denen neuer Luxus gesucht wird und entsteht.

Wie zum Beispiel?
Ferien und Flugreisen galten noch vor 60 Jahren als Luxus. Heute tut es fast jeder. Im Gegenzug gibt es nun «Bronze»-, «Silber»- und «Gold»-Flieger, die exklusive Flughafen-Lounges, nach Klassen gestaffelt, benützen dürfen. Und wer richtig exklusiv sein möchte, schafft sich einen Privatjet an.

Kann man heute mit Reichtum tatsächlich noch Eindruck ­schinden?
Status, Reichtum und Konsum sind in verschiedenen Gesellschaften interessanterweise unterschiedlich miteinander verbunden. Anders als in den USA oder in den arabischen Emiraten, fallen sehr reiche Menschen in der Schweiz zum Beispiel viel weniger direkt ins Auge. Es gilt, was man auch in vielen anderen reichen Konsumgesellschaften beobachten kann: dass weniger Besitz oder zumindest weniger spektakulärer Konsum auch ein Ausdruck von feinem Unterschied sein kann. Man dokumentiert Status dann eher, in dem man beweist, dass man über die neuesten Kunstausstellungen, exotische Restaurants, Opernpremieren, Jazz und World Music ­informiert ist und nebenbei noch am Triathlon teilnimmt.

Dem Kaufrausch stehen ­alternative Konsumformen ­gegenüber: Leistungen, die ­ausgetauscht werden, Dinge die geteilt werden, Güter die ­ökologisch und nachhaltig ­produziert werden: Wie ordnen Sie solche Trends ein, bringen sie etwas?
Sogenannte Gegenbewegungen existieren seit über einem Jahrhundert. Sie haben jedoch wenig dazu beigetragen, die Konsumwelle zu verringern oder zu stoppen. Solange diese Nischenbewegungen sind und sich aus dem Rhythmus der allgemeinen Konsumgesellschaft ausklinken, werden sie immer marginal bleiben.

Spielt das schlechte Gewissen der Konsumenten heute nicht ­zunehmend eine Rolle, wenn es darum geht, wie und was man nicht konsumiert? Oder anders ­gefragt: Ersetzt diese Schuld die Verbote der Vergangenheit, die den Konsum einschränken und verhindern wollten?
In gewissem Sinne stimmt das. Allerdings sind die Konsequenzen ­andere. Im 18. Jahrhundert wurden Frauen in Basel und anderswo mit hohen Strafen belegt, wenn sie sich gewisse modische Capricen erlaubten, denn dies wurde als Zeichen ­gewertet, dass die Frauen die Macht der Männer untergraben wollen. ­Erwarb eine italienische Dame ein ausländisches Kleidungsstück, galt sie hingegen als Verräterin an der einheimischen Produktion. Heute wollen wir beides: ein schlechtes Gewissen haben, weil unsere Kleiderschränke überquellen von nie oder selten getragenen Sachen. Aber mit dem Kauf von neuen, ­modischen und auch billigen Teilen machen wir dann doch weiter. Worte und Taten sind eben zweierlei.

Apropos: Wie halten Sie es selbst mit dem Konsum?
Ich versuche nachhaltig zu leben, aber auch ich bin kein Mönch und kämpfe mit dem zunehmend hektischeren Alltag und den damit ­zusammenhängenden Konsumgewohnheiten. Ein Beispiel? Meine Familie und ich wohnen in London relativ zentral und leben glücklich ohne Auto. Gleichzeitig reisen wir aber überdurchschnittlich viel, um unsere Verwandten in New York oder Hamburg zu besuchen oder um an internationalen Kongressen teilzunehmen.

Und was war Ihr letzter Kauf?
Statt Souvenirs bringe ich von ­Auslandreisen immer Musik aus der Region mit. Zuletzt kaufte ich in Rio de Janeiro, wo ich zu Gast­vorträgen eingeladen war, vier ­Bossa-Nova-CDs.

Gibt es einen wichtigen ­Ratschlag, den Sie den ­Konsumenten weitergeben möchten?
Ja. Öfters an das grosse Motto der ersten Konsumentenvereinigungen vor dem Ersten Weltkrieg denken: «Leben ist Kaufen. Kaufen ist Macht. Macht ist Pflicht.»

Zur Person

Professor Frank Trentmann (52) wuchs in Deutschland auf. Nach ­einem Medizin- und Geschichtsstudium an der Universität Hamburg studierte er an der London School of Economics und ­promovierte später in ­Harvard. Er war Gastprofessor an der Universität St. Gallen, heute lehrt er Geschichte am Birkbeck College der Londoner ­­­Uni­versität. Als ­Konsum­­forscher betrachtet er ­manches kritisch, sagt aber: «Konsum ist auch Freiheit, das sollte nicht ­vergessen gehen.» Er schrieb die ­Bücher «Free Trade Nation» (2008) und «Herrschaft der ­Dinge» (2017), sein aktuelles Buch­projekt ­befasst sich mit den Deutschen vom Zweiten ­Weltkrieg bis in die ­Gegenwart und will der moralischen Transformation ­eines Volks auf die Spur gehen. Frank Trentmann lebt mit seiner Frau, zwei Kindern und einem Hund in London.

Professor Frank Trentmann (52) wuchs in Deutschland auf. Nach ­einem Medizin- und Geschichtsstudium an der Universität Hamburg studierte er an der London School of Economics und ­promovierte später in ­Harvard. Er war Gastprofessor an der Universität St. Gallen, heute lehrt er Geschichte am Birkbeck College der Londoner ­­­Uni­versität. Als ­Konsum­­forscher betrachtet er ­manches kritisch, sagt aber: «Konsum ist auch Freiheit, das sollte nicht ­vergessen gehen.» Er schrieb die ­Bücher «Free Trade Nation» (2008) und «Herrschaft der ­Dinge» (2017), sein aktuelles Buch­projekt ­befasst sich mit den Deutschen vom Zweiten ­Weltkrieg bis in die ­Gegenwart und will der moralischen Transformation ­eines Volks auf die Spur gehen. Frank Trentmann lebt mit seiner Frau, zwei Kindern und einem Hund in London.

Frank Trentmann: Herrschaft der Dinge – Die Geschichte des Konsums vom
15. Jahrhundert bis heute, DVA Verlag.

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