Einschulung vs. Rückstellung – das sagt die Expertin
Ist dein Kind bereit für die Schule?

Bildungsdirektorin Martina Bircher bemängelt fehlende Fähigkeiten bei Kindergartenkindern. Schwingerkönigin Sonia Kälin hält ihre Tochter trotz Reife zurück. Das wirft eine grosse Frage auf: Wann ist denn ein Kind nun bereit für den Schulstart? Eine Expertin erklärt.
Publiziert: 00:02 Uhr
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Aktualisiert: 11:10 Uhr
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Foto: KEYSTONE

Darum gehts

  • Schulbereitschaft statt Schulreife: Entwicklung ist kein synchroner biologischer Ablauf
  • Selbstständigkeit und Kommunikationsfähigkeit sind wichtiger als akademische Vorkenntnisse
  • Flexible Einschulungsregelungen in vielen Kantonen ermöglichen individuelle Lösungen
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Sylvie KempaRedaktorin Service

Blick: Früher hiess es: Wer mit der rechten Hand über den Kopf das linke Ohr berühren kann, ist schulreif. Ist da etwas dran?
Anuar Keller:
Diese Übung sagt entwicklungspsychologisch nichts darüber aus, ob ein Kind die Einschulung meistern kann. Wir sprechen heute auch nicht mehr von Schulreife, sondern von Schulbereitschaft.

Wo liegt der Unterschied?
Der Begriff Schulreife stammt aus den 50er-Jahren. Damals dachte man, Entwicklung sei ein synchroner biologischer Ablauf – wie bei einem Apfel, der am Baum hängt, von sich aus reift und eines Tages so rote Backen hat wie alle anderen Äpfel. Aber so funktioniert kindliche Entwicklung nicht. 

Anuar Keller (54) ist Kinder- und Jugendpsychologin und Vorstandsmitglied von Schulpsychologie Schweiz
Foto: zVg

Wie dann?
Sie ist ein Zusammenspiel zwischen inneren und äusseren Faktoren: den Anlagen und Fähigkeiten des Kindes – Sprache, Intelligenz, Wahrnehmung, Motorik, emotionale und soziale Fähigkeiten – aber auch seiner Umgebung, der Familiensituation und ganz pragmatischer Fragen. Zum Beispiel: Wie lange ist der Schulweg, den es bewältigen muss?

Wie lässt sich also feststellen, ob ein Kind bereit ist für die Einschulung?
Wichtig ist nicht die Ausprägung einzelner Bereiche, sondern die Kombination aller Faktoren, die bei jedem Kind anders aussehen kann. Auch wenn sie sprachlich noch nicht ganz mitkommen, können sie schulbereit sein und Freude am Lernen mitbringen. In der Schule gehts ja nicht darum, zu zeigen, was man schon kann. Dort erhalten Kinder mit Schwierigkeiten auch gezielte Förderung und Unterstützung.

Was, wenn Eltern einem Kind emotional noch nicht die Ablösung zumuten wollen?
Zuerst sollte man die eigenen Beweggründe hinterfragen: Sind es Ängste, die man aufs Kind überträgt? Rückstellungen sollten nur im Interesse des Kindes geschehen – nicht, weil ein Schuleintritt für die Eltern emotional oder organisatorisch unbequem ist.

Zählt die Sorge, ein Kind könnte im Schulalltag überfordert sein?
Der Schulalltag ist voller Herausforderungen. Sie sind keine Bedrohung, sondern ein äusserer Anreiz für das Entwickeln neuer Fähigkeiten. Es hilft enorm, wenn Kinder früh Frustrationstoleranz, Selbstwirksamkeit und das sichere Ablösen von den Eltern üben dürfen.

Wie können Eltern diese Fähigkeiten fördern?
Indem sie ihrem Kind immer wieder zutrauen, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Viele Eltern greifen bei kleinen Schwierigkeiten vorsorglich ein, um zu helfen. Das ist lieb gemeint, aber besser wäre, das Kind das Problem selbst – allenfalls mit Unterstützung - lösen zu lassen. Das stärkt seinen Selbstwert, weil es spürt, dass seine Eltern ihm etwas zutrauen. Klappt es nicht sofort, lernt das Kind Frustrationstoleranz. Und wenn es die Aufgabe schliesslich schafft, spürt es Selbstwirksamkeit. 

Schulbereitschaft spielerisch fördern – so gehts!

Wer seinem Kind Möglichkeiten, Anreize und Inputs bietet, muss selbst gar nicht viel tun, um dessen Entwicklung zu fördern. Diese acht einfache Beispiele zeigen, wie lustvolles Lernen im Vorschulalter ganz nebenbei geschehen kann.

Die Konfetti-Übung
Lasst euer Kind mit einem Locher ganz viele Konfetti aus einem Blatt Papier stanzen.
Wirkung: Das Kind schult seine Feinmotorik und entwickelt ein Gespür für Material, Kraftdosierung und Handkoordination.

Der umgestülpte Ärmel
Reicht die Jacke mit einem nach innen gestülpten Ärmel – und gebt eurem Kind die Zeit, das Problem selbst zu lösen.
Wirkung: Das Kind lernt Frustration aushalten, weil es nicht auf Anhieb klappt. Es fühlt auch, dass seine Eltern ihm etwas zutrauen. Und wenn es schliesslich die Jacke anziehen kann, erlebt es Selbstwirksamkeit. Beides stärkt seinen Selbstwert.

Magische Suppen mixen
Gebt eurem Kind Schüsseln, Rührwerkzeug, Sand, Erde, Knete, Glitzer oder was ihr zur Hand habt und lasst es nach Lust und Laune alles zusammenmischen.
Wirkung: Diese Erfahrungen helfen bei der körperlichen Regulation, fördern die Sinneswahrnehmung und die Auge-Hand-Koordination und unterstützen die psychische Regeneration.

Bis zum Ende durchhalten
Unterbrecht euer Kind nicht, wenn es sich selbst beschäftigt. Und ermutigt es, etwas Angefangenes noch zu Ende zu bringen – anstatt beim kleinsten Unmut aufzugeben.
Wirkung: Fördert Durchhaltevermögen, die Konzentrationsfähigkeit und das Verständnis für Abläufe.

Basteln ohne Ziel
Gebt dem Kind ein Blatt Papier, eine Schere und eine Klebebandrolle und lasst es damit schneiden, kleben und werken – ohne dass ein bestimmtes Resultat erreicht werden muss.
Wirkung: Fördert Kreativität, Feinmotorik, Ausdauer und die Neugier auf den Prozess.

Parcours Marke Eigenbau
Baut einen Hindernislauf – zum Beispiel barfuss über steinige Stellen gehen oder unter einem Tunnel aus Altkarton hindurchkriechen.
Wirkung: Fördert die Grobmotorik, das Gleichgewicht, die Körperwahrnehmung und die Fähigkeit, sich selbst kleine Herausforderungen zu stellen und zu meistern.

Den Schulweg wandern
Lasst euer Kind seinen Rucksack packen – inklusive Znüniböxli – und geht gemeinsam den Schulweg ab. Besprecht unterwegs, an welchen Stellen das Kind sich sicherheitsorientiert verhalten muss, und beobachtet gemeinsam, was ihr unterwegs alles entdeckt.
Wirkung: Fördert Orientierungssinn, Aufmerksamkeit im Strassenverkehr, Selbstständigkeit und stärkt die Vorfreude sowie Sicherheit im Hinblick auf den Schulstart.

Erzähl-Zauberhut
Besorgt euch Bildkarten – die gibts im Spiele- oder Lehrmittelhandel – und versteckt sie in einem Hut. Abwechslungsweise zieht jemand eine Karte und erzählt eine Geschichte dazu. Eltern stellen gezielte Fragen wie: «Warum ist das passiert?» oder «Was denkt die Figur?»
Wirkung: Fördert die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, das Zuhören, die Informationsverarbeitung, das logische Denken und das Einfühlungsvermögen.

Wer seinem Kind Möglichkeiten, Anreize und Inputs bietet, muss selbst gar nicht viel tun, um dessen Entwicklung zu fördern. Diese acht einfache Beispiele zeigen, wie lustvolles Lernen im Vorschulalter ganz nebenbei geschehen kann.

Die Konfetti-Übung
Lasst euer Kind mit einem Locher ganz viele Konfetti aus einem Blatt Papier stanzen.
Wirkung: Das Kind schult seine Feinmotorik und entwickelt ein Gespür für Material, Kraftdosierung und Handkoordination.

Der umgestülpte Ärmel
Reicht die Jacke mit einem nach innen gestülpten Ärmel – und gebt eurem Kind die Zeit, das Problem selbst zu lösen.
Wirkung: Das Kind lernt Frustration aushalten, weil es nicht auf Anhieb klappt. Es fühlt auch, dass seine Eltern ihm etwas zutrauen. Und wenn es schliesslich die Jacke anziehen kann, erlebt es Selbstwirksamkeit. Beides stärkt seinen Selbstwert.

Magische Suppen mixen
Gebt eurem Kind Schüsseln, Rührwerkzeug, Sand, Erde, Knete, Glitzer oder was ihr zur Hand habt und lasst es nach Lust und Laune alles zusammenmischen.
Wirkung: Diese Erfahrungen helfen bei der körperlichen Regulation, fördern die Sinneswahrnehmung und die Auge-Hand-Koordination und unterstützen die psychische Regeneration.

Bis zum Ende durchhalten
Unterbrecht euer Kind nicht, wenn es sich selbst beschäftigt. Und ermutigt es, etwas Angefangenes noch zu Ende zu bringen – anstatt beim kleinsten Unmut aufzugeben.
Wirkung: Fördert Durchhaltevermögen, die Konzentrationsfähigkeit und das Verständnis für Abläufe.

Basteln ohne Ziel
Gebt dem Kind ein Blatt Papier, eine Schere und eine Klebebandrolle und lasst es damit schneiden, kleben und werken – ohne dass ein bestimmtes Resultat erreicht werden muss.
Wirkung: Fördert Kreativität, Feinmotorik, Ausdauer und die Neugier auf den Prozess.

Parcours Marke Eigenbau
Baut einen Hindernislauf – zum Beispiel barfuss über steinige Stellen gehen oder unter einem Tunnel aus Altkarton hindurchkriechen.
Wirkung: Fördert die Grobmotorik, das Gleichgewicht, die Körperwahrnehmung und die Fähigkeit, sich selbst kleine Herausforderungen zu stellen und zu meistern.

Den Schulweg wandern
Lasst euer Kind seinen Rucksack packen – inklusive Znüniböxli – und geht gemeinsam den Schulweg ab. Besprecht unterwegs, an welchen Stellen das Kind sich sicherheitsorientiert verhalten muss, und beobachtet gemeinsam, was ihr unterwegs alles entdeckt.
Wirkung: Fördert Orientierungssinn, Aufmerksamkeit im Strassenverkehr, Selbstständigkeit und stärkt die Vorfreude sowie Sicherheit im Hinblick auf den Schulstart.

Erzähl-Zauberhut
Besorgt euch Bildkarten – die gibts im Spiele- oder Lehrmittelhandel – und versteckt sie in einem Hut. Abwechslungsweise zieht jemand eine Karte und erzählt eine Geschichte dazu. Eltern stellen gezielte Fragen wie: «Warum ist das passiert?» oder «Was denkt die Figur?»
Wirkung: Fördert die sprachliche Ausdrucksfähigkeit, das Zuhören, die Informationsverarbeitung, das logische Denken und das Einfühlungsvermögen.

Kann man auch Trennungsschmerz vorbeugen?
Ja, indem man Ausflüge mit dem Gotti oder den Grosseltern früh zulässt und fördert, lernt das Kind, dass es ok ist, wenn Mama und Papa nicht immer dabei sind. 

Welche praktischen Fähigkeiten sind wichtig?
Es geht nicht darum, dass Eltern ihren Kindern Lesen oder Rechnen beibringen – das lernen sie in der Schule. Selbstständigkeit ist wichtiger: alleine aufs WC gehen, sich umziehen, den Znüni auspacken. Wichtig ist auch, dass Kinder zu Hause erleben, wie man Gespräche führt. Eltern, die viel mit ihren Kindern reden und ihnen aufmerksam zuhören, fördern diese Fähigkeit.

Kann eine Rückstellung auch schädlich sein?
Eine spätere Einschulung bringt keinen Vorteil, wenn das Kind bereit wäre. Im Gegenteil: In den späteren Schuljahren kann es sich sozial fehl am Platz fühlen, wenn es an einem anderen Punkt steht als seine Klasse. Der Stichtag passt für die Mehrheit – aber eben nicht für alle. Viele Kantone haben zum Glück flexible Regelungen, und ich empfehle Eltern, sich mit Fachpersonen auszutauschen, um alle Chancen und Risiken dieser Entscheidung miteinander abzugleichen. 

Es muss nicht das ABC sein: Kinder von klein auf mit allen Sinnen die Welt erkunden zu lassen, bereitet sie ganz nebenbei auf die Einschulung vor.
Foto: Shutterstock

Was, wenn ein Kind noch Defizite hat?
Wichtig finde ich auch, dass man nicht nur auf mögliche Defizite schaut, sondern ebenso auf die Stärken des Kindes. Diese Ressourcen sind oft der Schlüssel, um Herausforderungen im Schulalltag gut zu bewältigen.

Was sollten alle Eltern wissen?
Kinder brauchen für eine gesunde Entwicklung von Anfang an Phasen der Regeneration. Und damit meine ich nicht Bildschirmzeit. Sie kann zwar beruhigend wirken, bringt Kinder aber in eine passive Konsumhaltung mit Suchtpotenzial. Erholung passiert durch Erleben des Körpers: Kneten, mit Wasser spielen, basteln, sich dreckig machen. Das kann wild wirken, ist für das klindliche Hirn aber wie eine Meditation. 

«Wir haben keine Höhenangst!»
2:18
Vera und Fabia auf Schulweg:«Wir haben keine Höhenangst!»
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