BLICK: Warum soll man sich heute noch mit Märchen beschäftigen?
HASIB JAENIKE: «Früher gehörten sie zum Volksgut. Märchen wurden immer nur erzählt, denn das Volk konnte nicht lesen, und die Gelehrten interessierten sich meist nicht dafür. Die Erzähl-Tradition ist so alt wie die Menschheit – die gilt es zu pflegen. Ein weiterer Grund sind auch der pädagogische und der psychotherapeutische Wert der Märchen.»
In Märchen werden Frauen im Ofen verbrannt, Bäuche aufgeschlitzt, Mädchen vergiftet. Wo ist da der pädagogische Wert?
«Schon kleine Kinder schauen die ‹Tagesschau›, da fliegen täglich Autos in die Luft. Die Märchen sind ein Spiegel der Realität – aber in Märchenbildern. Und die Grausamkeit hat immer eine Konsequenz, sie wird aufgelöst. Der böse Wolf hat das Gute verschlungen, also wird ihm der Bauch aufgeschlitzt, um es wieder herauszuholen. Das Gute obsiegt. Das predigt die christliche Lehre seit 2000 Jahren, die Märchen sind aber viel älter.»
Märchen waren ursprünglich für Erwachsene, heute erzählt man sie Kindern. Ist das nicht falsch?
«Früher haben sich zwar Erwachsene Märchen erzählt, die Kinder durften aber dabei sein. Die Geschichten stehen meist für Familiensituationen. Dies haben auch schon Philosophen und Psychoanalytiker wie Carl-Gustav Jung oder Erich Fromm erkannt. König und Königin sind die Eltern, Prinz und Prinzessin die Kinder. Was passiert, entspricht einem Familienkonflikt. Kinder erkennen sich da wieder. Wichtig ist, dass man sich Zeit für ein Gespräch nach dem Erzählen nimmt.»
Betrachtet man Märchen aus psychologischer oder gar therapeutischer Sicht, geht da nicht der Zauber verloren?
«Wenn man nur so darüber redet schon. Mit Kindern macht man das ja nicht, da erzählt man sie einfach. Märchen sind da nur Märchen, und das ist auch gut so.»
Neben den alten, mündlich überlieferten Märchen gibt es auch neue, von Autoren geschriebene. Was halten sie davon?
«Alle grossen Schriftsteller haben Märchen geschrieben: Johann Wolfgang Goethe, Hermann Hesse, Oscar Wilde etc. Und natürlich Hans Christian Andersen, der geniale Märchendichter. Ich wehre mich gegen eine Wertung, aber überlieferte Märchen wurden über Jahrhunderte verdichtet, die tragen eine Ur-Essenz in sich, die Autorenmärchen nicht haben können.»
Sie propagieren das freie Erzählen, noch vor dem Vorlesen.
«Ja, das ist einfach intimer. Vor allem gegenüber dem Hören von Kassetten. Oder wie mal ein Kind sagte: ‹Der Kassettenrecorder kann mich nicht auf den Schoss nehmen.›»