Michelle Nahlik (38) sitzt im Berner Restaurant Grissino und zieht aus einem riesigen Sack ebenso riesige Tagebücher hervor. In jedem steht auf der ersten Seite: «Mein geliebtes Tagebuch. Du bist mein einziger, vertrauenswürdiger Freund. Niemandem ist es erlaubt, darin zu lesen und meine intimsten Geheimnisse zu erfahren.»
Jetzt bricht die zierliche blonde Frau ihren Schwur. Die heute als biomedizinische Analytikerin tätige Frau war ein Junkie und hat darüber das Buch «Das Maktub* von Luana» geschrieben. Immer, wenn ihr was Schreckliches widerfahren ist, nennt sie sich darin Luana. «Ich musste das machen, um die nötige Distanz zu schaffen», sagt Michelle.
Der erste Schuss
«Er schnallte seinen Gürtel eng um meinen Oberarm, und meine Venen erschienen an der Hautoberfläche. Mit einem Lächeln injizierte mir Viktor meinen ersten Schuss. Ich fühlte eine angenehme, fürsorgliche Wärme, die von ganz tief innen zu kommen schien. Meine Ängste und Sorgen waren verschwunden, ich fühlte mich geborgen und sicher wie niemals zuvor.»
Heute hat Michelle immer noch täglich mit Spritzen zu tun. Als biomedizinische Analytikerin nimmt sie damit den Patienten im Spital Blut. «Man lobt mich immer, weil ich so gut darin bin», sagt Michelle. Bis jetzt wusste nur ihre Chefin, dass der Grund dafür in ihrer Drogenvergangenheit liegt.
Ihr Dealer Victor
«Unsere Beziehung war einzig von der Droge bestimmt. Es gab zwischen ihm und mir weder irgendeine Art von Liebe noch Res-pekt. Ausserdem werde ich von dir sowieso meistens wie ein Stück Scheisse behandelt. Der einzige Grund, dass ich überhaupt in deiner Nähe bin, ist einzig und alleine die Sucht», steht im Tagebuch.
Heute pflegt sie nur noch eine Beziehung von damals – die mit ihrer langjährigen Liebe Michael. «Er nahm keine Drogen und ich machte ihm mit meiner Heroinsucht das Leben zur Hölle. Das hat unsere Liebe zerstört», sagt Michelle. Aber sie sind Freunde geblieben und telefonieren täglich miteinander.
In der Szene
«Hektik, Geschrei, Fluchen und überall diese toten, aber dennoch gierigen Blicke. Süchtige, die sich in der offenen Drogenszene einen Schuss Kokain oder Heroin in Arme, Beine, Hals, einfach irgendwohin, wo sich eine Vene befand, setzen. Das Schlimmste daran: Jeder wusste, wie hoffnungslos sein Leben war. Früher oder später würde man an diesem Gift, das mit allem möglichen Dreck gestreckt war, sterben. Doch jeder Gedanke galt einzig und allein dem nächsten Schuss.»
Michelle lebt jetzt in ihren eigenen vier Wänden im Kanton Freiburg. Die Wohnung ist voll von Reiseerinnerungen – vor allem aus Ägypten. «Dort in der Wüste konnte ich meine Seele reinigen und Kraft tanken.» Heute ist sie schon rundum glücklich, wenn sie am See einen Kir Royal trinken geht.
Der Tod der besten Freundin
Von ihrem Dealer Viktor erfuhr Luana, dass Valérie, eine Freundin, aus der Therapie abgehauen war und sich noch am Tag ihrer Flucht den goldenen Schuss gesetzt hatte. Im Tagebuch steht dazu: «Ich versuche den Schmerz mit Hilfe des Sugars abzutöten. Ich sehe Valérie vor mir, wie wir gemeinsam in der Wohnung sitzen und uns unsere Zukunft ohne Heroin ausmalten. Ich brach in ein unkontrolliertes Weinen aus. Ich fühlte mich elend und definitiv verloren.»
Heute verliert sich Michelle nicht mehr in den Drogen, sondern beim Tanzen. «Meine grosse Leidenschaft ist der Salsa. Bei diesem sinnlichen Tanz bin ich fröhlich und ohne Sorgen.»
Der vorläufig letzte Schuss
Nach dem Tod ihrer besten Freundin sagte sich Michelle: Entweder hörst du auf mit fixen, oder du bist die nächste. Im Tagebuch steht dazu: «Der kalte Entzug, die totale Abstinenz, war unbeschreiblich hart. Körperlich war ich jetzt clean, aber in meinem Gehirn schrie es noch immer nach Sugar.»
Michelle zieht mit ihrem Freund Michael nach Zürich und beginnt eine Ausbildung als biomedizinische Analytikerin.
Am Nullpunkt
Eines Abends findet Michael Luana in ihrem Wohnzimmer. Sie liegt bewusstlos und kreidebleich in ihrem Erbrochenen. Er rennt zum Telefon und wählt die Notrufnummer. Michelle: «Mein Absturz hat mich fast das Leben gekostet. Noch im Spitalbett entschloss ich mich ein für allemal für das Leben. Es war mein letzter Schuss. Seit 15 Jahren bin ich drogenfrei und geniesse jeden Atemzug.»
Ihr Leben heute
Auf der letzten Seite des Tagebuchs steht: «Mit Luana unterhalte ich mich noch immer gern. Ich bin nicht stolz auf ihre Geschichte, aber ich bin stolz auf ihre Tapferkeit und ihren Mut. Den Start in ein neues Leben hat Luana erfolgreich hinter sich gebracht. Privat und beruflich führt sie seit Jahren ein erfülltes Leben. Sie hat uns einfach erzählt, was ihr notwendig erscheint.»
Diese Woche kommt das Buch in den Handel. Michelle: «Wenn nur schon ein junger Mensch es liest und deswegen kein Heroin nimmt, dann hat es sich schon gelohnt.»
* Maktub stammt aus dem Ägyptischen und heisst so viel wie Schicksal.