Sie schwört Stein und Bein, dass das Verhältnis zum Vater «super» ist, doch sie sucht nur nach Fütterung der verhungernden Seele. «Daddy ist der Grösste.» Wenn schon elterliche Probleme, dann werden sie der Mutter zugeordnet. Aber dem Vater? Nie! Und wie er sie gefördert hat, die kleine Tochter. Zuerst zum Ballett, dann zum Reitunterricht: «Mit viereinhalb konnte sie schon lesen, und in der dritten Klasse haben wir sie direkt ins Gymnasium eingeschult.» Charakteristisch für die Vater-Tochter-Beziehung einer Leistungs-Tochter ist zudem, dass die Mutter sehr wenig Zustimmung für sich selbst erhalten hat.
Leistungs-Töchter kommen oft aus Familien, in denen der Vater die Mutter nicht sonderlich schätzte und seine ganze Energie auf die Entwicklung der Tochter konzentrierte. Das Vorbild der Mutter scheint dadurch wenig erstrebenswert. Die Tochter erkennt, dass der Wert der Mutter für den Vater gering ist, und schliesst sich diesem Wertemuster an. Der hohe «Betreuungsaufwand» des Vaters lässt sowohl die Tochter sowie Aussenstehende und natürlich auch den Vater übersehen, dass die «Investitionen» in sein Kind sachlich-fachlich engagiert, aber kaum emotional sind.
Auch die Leistungs-Tochter ist damit das Opfer einer Mangelbeziehung, auch ihr fehlt die Beantwortung der eigenen Person durch den Vater. Lautet das Schlüsselwort der Gefall-Tochter «Aufmerksamkeit», so ist es in diesem Fall «Tüchtigkeit». Die Aufmerksamkeit und Anerkennung des Vaters wird durch Pauken und Leistung erreicht.
Doktor Isabel, die schon erwähnte Ärztin, ist so eine Leistungs-Tochter. Für sie stand die Mutter weit unten in der Hierarchie der Familie und repräsentierte all das, was Isabel selbst nie sein wollte, sie wurde geradezu zum Negativ-Vorbild. Die Mutter verkörperte ein Frauenbild, das Isabel vollständig für sich ablehnte. Der Vater hingegen wurde als ein Förderer, ein Komplize, ein Verbündeter fürs Leben wahrgenommen.
Isabel hat eine grossartige Karriere gemacht und ist heute Vaters ganzer Stolz. Sie wurde jüngste Chefärztin eines Grossklinikums, Dozentin, viel beachtete Rednerin auf Kongressen und zuletzt auch noch in leitender politischer Funktion mit allen Insignien der Macht ausgestattet.
Isabel spielte das Machtspiel der Männer besser als diese selbst. Sie steht ausserhalb der traditionellen Zirkel männlicher Entscheidungsträger und ist dennoch zu intimen Kenntnissen und Einblicken in deren Strukturen befähigt, die sie erfolgreich anwendet.
... Der Vater, Beamter im höheren Dienst, wäre sehr gern Arzt geworden. Doch die Familie konnte die Studiengebühren nicht aufwenden, und so blieb dem Vater eine akademische Karriere verwehrt. Die kleine Isabel hat das möglicherweise schon sehr früh begriffen und gespürt, dass der Weg zum Vater so am einfachsten gelingt. Es waren also nicht kleine Gefälligkeiten oder optische Reize, die Isabel für sich entdeckte, um vom Vater beantwortet zu werden. Vielmehr war es die nachgeholte Erfüllung des väterlichen Lebenstraums.
Diese Idee festigte sich sehr früh im Leben von Isabel und wurde bestärkt durch die Tatsache, dass der Vater Fragen und Hinweise zum Thema Medizin sehr offen und interessiert aufnahm, beantwortete, sich also mit seiner Tochter beschäftigte. Doch war es natürlich keine emotionale Beschäftigung, mehr eine Ersatzhandlung, die Isabel aber mit den Jahren für Zuneigung hielt. Es fehlte ihr in Gefühlsdingen schlichtweg an Erfahrung.
Man muss keine psychologischen Vorkenntnisse haben, um zu vermuten, welche Bedeutung das für ihr Beziehungsleben hat. Schwankend zwischen Promiskuität und «problematischen Beziehungen» zu Männern, landete Isabel schliesslich glücklich in einer lesbischen Beziehung zu einer Frau, die sehr viel weiblichere Elemente hat als sie selbst, ihr aber in Sachen Erfolg in nichts nachsteht.
Doch ist das ein seltener Fall. Die meisten Leistungs-Töchter verleugnen konsequent ihre Gefühlswelt. Sie wird sogar als schlecht, als leistungsbehindernd empfunden. Das vom Vater vorgelebte, dominierte Lebensmuster lautet: Ratio ist gut, Gefühle sind schlecht. In der (Geschäfts-)Welt rational geprägter Männer suggeriert Sachlichkeit Schutz und Halt vor den schnellen Veränderungen und der Komplexität, die unsere Welt mit sich bringt.
... Es ist das Drama von Frauen wie Isabel, dass ihnen der selbstverständliche Bezug zur eigenen Gefühlswelt abgeschnitten wurde, weil sie seit der Kindheit in den Wünschen und Bedürfnissen von Dritten fremdbestimmt worden sind, ohne es zu merken.
Lesen Sie morgen im BLICK die letzte Folge: Die Protest-Tochter.