Wann immer er glaubte, für andere unpassend zu sein, verkroch er sich in die Schulbibliothek. Dort fühlte er sich in Sicherheit. Pausen verbrachte er gern auf der Toilette. Einmal fand er hinter dem Spülkasten ein Heft mit nackten Frauen, die auf der Motorhaube eines Autos lagen, umgeben von Wüste und einem Kaktus. An der Fassungslosigkeit, die ihn damals überfiel, erkennt er, wie ahnungslos er gewesen sein muss.
Heute ist Sven 48 und Sekundarlehrer. Er hat Verständnis für Fluchtversuche. «Flüchten heisst träumen», sagt er. Deshalb besorgt ihn, was er bei seinen Schülern beobachtet: «Die kennen keine toten Minuten.»
Die amerikanische Psychologin Jean Twenge sieht einen Zusammenhang zwischen den steigenden Depressions- und Selbstmordraten Jugendlicher und ihrem Dauergebrauch des Handys. Die nach 1995 Geborenen nehmen zwar weniger Drogen, haben weniger Alkoholprobleme, weniger Unfälle, weniger Dates, weniger Sex und ein engeres Verhältnis zu ihren Eltern als die Vorgängergeneration – aber kein Wunder, so Twenge in der Zeitschrift «Atlantic», diese jungen Leute müssten das Haus ja gar nicht mehr verlassen, um sich mit Freunden zu treffen. Sie sässen mit ihren Smartphones in ihren Zimmern – vernetzt und gleichzeitig einsam.
Einsam vielleicht, aber nie allein, das sei das Problem, sagt Lehrer Sven: «Von Jugendlichen, die in den sozialen Netzwerken aktiv sind, ist Dauerpräsenz gefordert, Senden auf allen Kanälen, Whatsapp hier, Instagram da – und permanent vergleicht man sich mit anderen.»
Früher hatten Auftritte ihre festen Zeiteinheiten, etwa auf dem Fussballplatz oder in der Disco. Heute sei die Selbstinszenierung ein Rund-um-die-Uhr-Job. «Es gibt kaum einen Moment, wo diese Jugend sich unbeobachtet verabschieden kann», sagt Sven. Er hat den Eindruck, dass viele seiner Schüler chronisch müde sind, also wohl zu wenig schlafen, weil sie glauben, digital akut bleiben zu müssen, selbst in der Nacht.
Sven findet, die Schweiz sollte sich an den Franzosen ein Beispiel nehmen. Da hat Paris ab Herbst 2018 das Handy in allen Schulen des Landes verboten, nicht nur während des Unterrichts, sondern auch in Pausen und Freistunden. Von Frankreich lernen, und alles wird gut.
Ursula von Arx (51) wird von ihren Kindern als «technophob» bezeichnet. Dabei durften die kürzlich einen ganzen Sonntag digital verbringen. Am Ende des Tages sagte ihre Tochter: «Die beste Zeit hatte ich draussen beim Himbeerensammeln.» Braves Mädchen. Sagt, was Mutter gern hört. Manchmal. Ursula von Arx schreibt jeden zweiten Montag im BLICK.