«Das Hausschaf ist ein ruhiges, geduldiges, sanftmütiges, einfältiges, knechtisches, willenloses, furchtsames und feiges, mit einem Wort höchst langweiliges Geschöpf», schrieb Alfred Brehm in «Thierleben», einem zoologischen Standardwerk, in dem sich Generationen bis ins 20. Jahrhundert ihr Wissen über Tiere aneigneten.
In keinem seriösen Werk würde man heute solche Sätze mehr finden, aber unser Bild von Schafen ist vielleicht bis heute davon geprägt. Ich bin mit Schafen aufgewachsen, wegen des grossen Gartens. Braunköpfiges Fleischschaf, hiess die Rasse, die wir hielten – eine von elf anerkannten Schweizer Rassen. Wir gehörten sogar einer Genossenschaft an.
Draufgängerisches Schlitzohr
Ich bemerkte bald, dass mein Vater etwas anders war als die anderen Halter, die mit ihren blauen Kutten und roten Wangen aus der entgegengesetzten Richtung am Versammlungsort eintrafen. Dort wurden die Schafe mit Punkten und Zahlen besprayt und danach ins Gasterntal gekarrt, wo sie den Sommer auf der Alp verbrachten. Einmal gewannen wir sogar einen Preis für das schönste Mutterschaf. Es fühlte sich an, als hätte der Klassenkiffer den Aufsatzpreis gewonnen.
Zugegeben, eine wirklich enge Bindung hatte ich nie zu unseren Schafen. Bis auf eine Ausnahme: «Schlitzohr» hiess es, ein Mutterschaf. Und tatsächlich ein Schlitzohr, weil es sich an einem Ohr mal einen Schnitt zugezogen hatte. Schlitzohr war schlau und verfressen, ein Charakter, den man eher einer Ziege zutrauen würde. Leider wurde ihm das Draufgängertum zum Verhängnis. Als Schlitzohr sich einmal Zugang zum Sack mit hartem Brot verschaffte, überfrass es sich und musste erlöst werden.
Mästen macht keinen Sinn
Eigentlich sind sie alle Schlitzohren mit sanftmütigen Augen, Rebellen im Schafspelz, auch wenn wir sie für etwas einfältig halten. Das ist mir bewusst geworden, als mir kürzlich das wunderbare Büchlein «Schafe» aus der Naturkunden-Reihe des Verlags Matthes & Seitz in die Hände gekommen ist. Der hochintensivierten Landwirtschaft konnten sich die Schafe bislang entziehen – anders als die bemitleidenswerten Schweine, Rinder oder Hühner.
Es macht keinen Sinn, Schafe in Industriehallen zu zwängen und sie mit Soja aus brasilianischen Plantagen zu mästen, weil sich der Ertrag kaum steigern lässt. Schafe sind enorm genügsame Tiere, sie kommen mit einer mageren Wiese zurecht, aber das ist in heutiger Zeit absurderweise ein happiger Anspruch.
Simon Jäggi (38) ist Sänger der Rockband Kummerbuben, arbeitet im Naturhistorischen Museum Bern und hält Hühner.