Mark, wir haben uns vor ziemlich genau 20 Jahren kennengelernt, als wir beide 27 waren. Ich war damals Werbetexter, du Medizinstudent. Wie hat sich dein Leben seither verändert?!
So, wie ich es mir damals nicht hätte träumen lassen.
Wie hattest du es dir erträumt?
Ich hatte sehr hehre, beinahe ritterliche Vorstellungen von mir als Vater, als Arzt und als Mensch. Ich wollte immer einer der Guten sein. Es ging mir um Treue, Mitgefühl und Liebe.
Und das hat nicht geklappt?
Im Beruf wollte ich menschlich und liebevoll sein mit den Patientinnen und Patienten, aber die Rahmenbedingungen des Spitalbetriebs erlauben das oft nicht. Patienten, die vor einer Operation Angst haben und Bedenkzeit brauchen, bekommen diese nur selten. Die Befindlichkeiten der Menschen werden häufig nicht ernst genommen. Das war und ist schrecklich für mich.
Thomas Meyer (47) wurde in Zürich geboren. Er war 15 Jahre lang Werbetexter und Journalist, bis 2012 sein Debütroman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Schickse» publiziert wurde. Seither ist er als Schriftsteller und Kolumnist tätig, namentlich für das SonntagsBlick Magazin, wo er die Ratgeberkolumne «Meyer rät» schreibt. Er ist Vater und lebt in Zürich.
Thomas Meyer (47) wurde in Zürich geboren. Er war 15 Jahre lang Werbetexter und Journalist, bis 2012 sein Debütroman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Schickse» publiziert wurde. Seither ist er als Schriftsteller und Kolumnist tätig, namentlich für das SonntagsBlick Magazin, wo er die Ratgeberkolumne «Meyer rät» schreibt. Er ist Vater und lebt in Zürich.
Und wie hast du dir damals die Vaterschaft vorgestellt? Du hast heute zwei Kinder im Teenageralter.
Viel einfacher. Ich habe unterschätzt, wie sehr Kinder eigene Wesen mit eigenen Wünschen und Ansichten und Bedürfnissen sind. In der Folge habe ich ihnen meine eigenen Vorstellungen zu sehr übergestülpt. Ich war so überzeugt von mir.
Warum?
Weil ich das Gefühl hatte, dass ich als Erwachsener, der viel mehr gesehen und erlebt hat, weiss, wies geht. Ich war zu streng mit den beiden. Mit dem Sohn noch mehr als mit der Tochter. Ich wollte ihn wohl auf das Leben als Mann vorbereiten.
Was würdest du heute anders machen?
Ich würde versuchen, nicht aus meiner Perspektive zu handeln, sondern mir alle Mühe geben, die Perspektive meiner Kinder zu würdigen. Ich habe fast immer auf meiner eigenen beharrt. Das war ein Fehler.
Wie ist dein Verhältnis zu deinen Kindern heute?
Sie sind Teenager, sie haben ein riesiges Autonomiebedürfnis. Ich wünsche mir natürlich mehr Kontakt. Ich habe das Gefühl, ich hätte versagt. Vor allem, wenn ich sehe, wie du mit deinem Sohn umgehst und wie ihr es miteinander habt. Man muss nicht ein Familienkonstrukt auf Biegen und Brechen aufrechterhalten. Das habe ich probiert, und das hätte nicht sein müssen.
Mark Bohnhoff wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitet seit 2004 in verschiedenen Spitälern, aktuell als Oberarzt in einem Zürcher Regionalspital. Seit 2006 ist er als Notarzt tätig, seit 2009 auch in der Luftrettung. Ausserdem bildet er Studierende aus der Anästhesiepflege sowie Medizinstudierende und Ärztinnen und Ärzte aus. Er ist Vater und lebt im Limmattal.
Mark Bohnhoff wurde 1974 in Zürich geboren. Er arbeitet seit 2004 in verschiedenen Spitälern, aktuell als Oberarzt in einem Zürcher Regionalspital. Seit 2006 ist er als Notarzt tätig, seit 2009 auch in der Luftrettung. Ausserdem bildet er Studierende aus der Anästhesiepflege sowie Medizinstudierende und Ärztinnen und Ärzte aus. Er ist Vater und lebt im Limmattal.
Du bist seit kurzem geschieden, nach zwölf Jahren Ehe. Wie stehst du heute zu dieser Institution?
Ganz früher, als Jugendlicher, fand ich das toll. Später, als ich meine Freiheit genoss, lehnte ich sie ab. Mittlerweile empfinde ich sie wieder als heilig. Wenn man spürt, dass es das Richtige ist, dann soll man das machen.
Was würdest du deinen Kindern sagen, wenn sie heiraten wollen und du merkst, dass es wahrscheinlich nicht das Richtige ist?
Ich würde versuchen, sie zu ihrem Fühlen zu begleiten. Ich würde mit ihnen in die Natur gehen, ohne Elektronik. Ich finde, gerade die Kinder sind heute so abgelenkt durch das Handy.
Du nicht?
Doch, sicher.
Was machst du dagegen?
Mich ertappen. Mir eingestehen, dass ich es nicht im Griff habe. Das Handy bewusst ausschalten und weglegen. Es ist eine reine Willensbildung, ein Befehl an mich selbst. Wenn ich in der Natur bin, gelingt es von allein. Ich habe es zwar gern dabei, für Fotos, aber ich vergesse es dann. Darüber freue ich mich jeweils. Auch wenn ich den perfekten Schnappschuss verpasse.
Lass uns über deine Arbeit als Arzt reden. Du bist Oberarzt im Spital und Notarzt bei der Luftrettung. Was hat dich das gelehrt?
Was es bedeutet, Mensch zu sein. Mitgefühl und Spüren. Und dem ausgeliefert sein. Sich nicht schämen, vor einer Patientin oder einem Patienten zu weinen.
Fühlst du mehr als früher?
Ja. Wieder.
Wann hast du weniger gefühlt?
Als ich begann, als Arzt zu arbeiten, mit Schichten von 12, 14, 20 und sogar 30 Stunden, hatte ich tatsächlich keine Zeit dafür. Es gab so viel zu entscheiden, zu handeln. Heute arbeite ich weniger. Die Arbeitsgesetze sind auch besser. Auch wenn man im Vergleich zu anderen Berufsgattungen immer noch mehr gefordert wird. Wir haben keine Fahrtenschreiber wie Lastwagenfahrer.
Wie gehst du mit dem Leid um, das du bei deiner Arbeit miterlebst – wenn du als Notarzt zu einem Unfall kommst?
Auf dem Hinflug weiss ich nicht, was mich erwartet. Die Alarmierung klingt oft genau so: alarmierend. Da habe ich die Hosen voll. Das ist immer noch so. Aber wenn ich mir dann einen Überblick verschafft habe, setzt der Drill ein, und dann funktioniere ich.
Du bist dann also der Coolste auf dem Platz, während alle anderen die Nerven verlieren?
Nein. Der Coolste ist jener, der nicht handeln und nichts entscheiden muss.
Das wäre dann zum Beispiel der Pilot?
Ja. Der kann nur beobachten, während wir arbeiten. Und je nachdem auf Probleme aufmerksam machen. Das nennt sich Speak-up und ist sehr hilfreich, wird aber noch nicht lange gemacht. Auch eine Putzkraft, die vor dem Schockraum vorbeiläuft und sieht, dass ein Gerät nicht eingesteckt ist, kann und soll das sagen.
Deine Gefühle nimmst du nach dem Einsatz mit nach Hause. Was machst du dann?
In «House of God» stellt Samuel Shem Gesetze für Medizinerinnen und Mediziner auf. Eines davon lautet: «The patient is the one with the disease», also der Patient ist derjenige, der die Krankheit hat. Niemand kann etwas dafür. Es ist einfach so. Das hilft einem, all das Leid und den Schrecken zu akzeptieren. Aber es hinterlässt trotzdem Spuren in der Seele. Man muss das richtig verarbeiten, sonst wird man bitter und hart. Ich gehe im Geist alles nochmals durch, um für ähnliche Situationen etwas zu lernen. Und ich lasse alle Gefühle zu. Wenn zum Beispiel ein Kind tödlich verunfallt und die Eltern das mitansehen müssen, geht das ja nicht.
Wie schaffst du es, dich in einer solchen Situation zu distanzieren, um arbeiten zu können?
Am Anfang meiner Karriere war es tatsächlich ein Distanzieren. Ein Verdrängen. Mittlerweile ist es aber ein Annehmen, ein Integrieren. Vielleicht berühre ich die Eltern am Arm. Einen Erfolg kann ich ihnen nicht versprechen, aber vollen Einsatz, technisch und menschlich.
Und das hilft dir, Ruhe zu bewahren?
Ja. The patient is the one with the disease. Ich kann während des Beatmens mit den Angehörigen sprechen. Ich sage ihnen, dass wir alles tun, was die Medizin kann.
Auf dein Privatleben angewendet, machst du das da auch so?
Ich versuche es, die Prinzipien sind ja dieselben. Es geht wieder um Menschlichkeit und Respekt.
Wenn wir jetzt 20 Jahre in die Zukunft blicken, sind wir beide 67. Was wünschst du dir für dann?
Dass der Weg, den ich jetzt gehe, auch dann noch der richtige ist. Und dass ich mich auch dann noch entwickeln kann, menschlich wie medizinisch.
Wir waren uns bezüglich der Corona-Politik oft nicht einig. Wie gehen Freunde damit am besten um?
Man darf das Gespräch nicht abbrechen lassen. Das persönliche Gespräch, mit Augenkontakt. Telefon und SMS genügen nicht und bergen die Gefahr von Missverständnissen. Wir beide haben uns an diesem Thema beinahe entzweit. Das habe ich nie für möglich gehalten.
Um Verständigung bemüht hast ja vor allem du dich.
Ja. Ich wollte dich nicht aufgeben.
Mir hat es geholfen, dass wir darüber geredet haben, warum wir die Dinge so sehen, wie wir sie sehen. Ich habe dir all die Fragen gestellt, die mich umgetrieben haben.
Das ist das, was ich mit meinen Kindern gern besser gemacht hätte.