Hand aufs Herz: Hören Sie, wenn Sie eine Person kennenlernen, immer zuerst auf den Dialekt?
Das passiert bei mir meist automatisch. Mich interessiert, woher jemand kommt. Wie jemand spricht, sagt viel darüber aus, wie jemand aufgewachsen ist, ob die Person aus der Stadt oder vom Land stammt. Welche Werte jemandem vermittelt worden sind.
Erraten Sie, woher mein Dialekt stammt?
Oh, schwierig. Raum Luzern oder Zürich?
Fast! Raum Solothurn, mit Zürich-Einschlag. Ersteres eher ländlich. Sie können mir also sagen, worauf man im Solothurnischen Wert legt?
Wir haben Forschungsprojekte, bei denen wir unter anderem schauen, ob sich die Leute beim Aussteigen aus dem Bus bedanken, dem Busfahrer «schönen Abend» sagen oder sich für gewisse Dinge entschuldigen. Da zeigt sich, dass dies in katholischen Gebieten verbreiteter ist. Diese Leute mögen Rituale, allein die Messe enthält ja viele. Und sie versuchen eher, unsichere Situationen zu vermeiden. Sie drücken sich höflicher aus, wollen nicht anecken.
Das stimmt! Das musste ich mir in Zürich abgewöhnen. Sie haben kürzlich ein anderes Forschungsprojekt abgeschlossen, mit dem Sie die Sprechgeschwindigkeit gemessen haben. Sind die Berner tatsächlich die Gemütlichsten?
Ja. Das sieht man, wenn man das Sprechtempo in der Anzahl der Silben pro Sekunde misst. Die Berner sprechen pro Minute durchschnittlich 257 Silben aus. Das ist relativ wenig im Vergleich.
Wer spricht am schnellsten?
Die Walliser. In Saas-Grund kommen die Leute auf 271 Silben pro Minute. Auch die Stadt Zürich gehört mit durchschnittlich 263 Silben pro Minute zu den Schnelleren. Wir haben beim Sprechtempo zudem Unterschiede bei den Alters- und Geschlechtsgruppen entdeckt, die uns zum Teil überrascht haben.
Erzählen Sie mehr!
Die jungen Berner Männer sprechen am langsamsten. Langsamer als die älteren Berner. Davor dachte ich, es wäre umgekehrt. Es ist erwiesen, dass man im Alter langsamer wird. Das Hirn entschleunigt, man bewegt sich langsamer fort. Bei unseren Dialekten passiert das offenbar nicht.
Wie sieht es bei den Frauen aus?
Junge Frauen im Wallis und in Zürich sprechen am schnellsten.
Hat die Sprechgeschwindigkeit etwas mit dem IQ zu tun oder anders gefragt: Ist, wer schnell redet, auch klüger?
Nein. Aber aus der Forschung weiss man: Wer schnell spricht, wird von anderen eher als kompetent wahrgenommen. Vielleicht weil man viel mehr an Informationen mitbekommt, wirkt das Gegenüber kompetenter.
Adrian Leemann und sein Team der Universität Bern untersuchen im Rahmen des Projekts «Swiss German Dialects Across Time and Space» den Sprachwandel und die Sprechgeschwindigkeit in der Schweiz. Zwischen 2020 und 2021 haben sie dafür 1016 Personen aus 127 Ortschaften befragt. Diese gehören je zur Hälfte der älteren und der jüngeren Generation an. In längeren Interviews zeigten die Forschenden diesen Personen Bilder oder legten ihnen Sätze zur Übersetzung aus dem Hochdeutschen vor, um den Wortschatz, die Aussprache und die Grammatik der Dialekte zu erfassen. Im November erscheint dazu das Buch Dialäktatlas, der sich dem Sprachwandel in der Schweiz widmet. Der Atlas umfasst Karten und Erklärungen zu rund 160 Dialektphänomenen.
Adrian Leemann und sein Team der Universität Bern untersuchen im Rahmen des Projekts «Swiss German Dialects Across Time and Space» den Sprachwandel und die Sprechgeschwindigkeit in der Schweiz. Zwischen 2020 und 2021 haben sie dafür 1016 Personen aus 127 Ortschaften befragt. Diese gehören je zur Hälfte der älteren und der jüngeren Generation an. In längeren Interviews zeigten die Forschenden diesen Personen Bilder oder legten ihnen Sätze zur Übersetzung aus dem Hochdeutschen vor, um den Wortschatz, die Aussprache und die Grammatik der Dialekte zu erfassen. Im November erscheint dazu das Buch Dialäktatlas, der sich dem Sprachwandel in der Schweiz widmet. Der Atlas umfasst Karten und Erklärungen zu rund 160 Dialektphänomenen.
Inwiefern hängt das damit zusammen, dass die jungen Frauen in Zürich schneller reden?
Menschen definieren ihre Identität unter anderem über die Art, wie sie sprechen. Sie legen sich eine bestimmte Sprache zu, um ganz bestimmt wahrgenommen zu werden. Vielleicht wollen sich die jungen Frauen damit als Vertreterinnen aus der Grossstadt zu erkennen geben. Und die jungen Berner tun, so vermuten wir, aus dem gleichen Grund das Gegenteil.
Oft hört man in der Schweiz, wir hätten die vielfältigste Dialektlandschaft der Welt. Ist das Selbstlob oder wahr?
Das klingt eher nach Eigenlob. In Italien, England, Holland und vielen anderen Ländern gibt es auch vielfältige regionale Dialekte. Einzigartig bei uns ist, dass auf sehr engem Raum viel passiert. Und unser Verhältnis zum Hochdeutschen ist auch besonders. Bei uns spricht man entweder Dialekt, meistens sogar, oder dann Hochdeutsch. Wir mischen beides kaum. In Deutschland ist das anders.
Sie haben herausgefunden, dass diese Vielfalt verloren geht. Sprechen in der Deutschschweiz bald alle nur noch Züritüütsch?
Es kommt darauf an. Wenn sich ein Schweizer Wort durchsetzt, ist es meist die Zürcher Variante. So zum Beispiel Rande, das früher unter anderem in Zürich vorkam, aber kaum im ganzen Westen. Heute hört man – vor allem bei den jüngeren Ortsansässigen – eigentlich nur noch Rande. Andere Begriffe wie Räätech sind praktisch ganz verschwunden. In einigen Wörtern gibt es auch eine Anpassung an die deutsche Standard-Hochsprache.
Adrian Leemann kam 1980 zur Welt und wuchs in Zofingen AG auf. Mit einer Mutter aus dem Thurgau und einem Vater aus Zürich hatte er früh mehrere Dialekte im Ohr. 2005 schloss er sein Studium in Anglistik und Allgemeiner Sprachwissenschaft an der Universität Bern ab. Heute ist er Professor für Deutsche Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Soziolinguistik an der Uni Bern. Er erforscht unter anderem soziale Faktoren beim Wandel und bei der Variation des Schweizerdeutschen. Vielen bekannt ist die «Dialäkt Äpp» von ihm und seinem Team. Die User wählen für 16 Wörter ihre dialektale Aussprachevariante aus, und die App erkennt den Dialekt. Leemann wohnt mit seiner Familie und Hund Nemo im Kanton Aargau.
Adrian Leemann kam 1980 zur Welt und wuchs in Zofingen AG auf. Mit einer Mutter aus dem Thurgau und einem Vater aus Zürich hatte er früh mehrere Dialekte im Ohr. 2005 schloss er sein Studium in Anglistik und Allgemeiner Sprachwissenschaft an der Universität Bern ab. Heute ist er Professor für Deutsche Sprachwissenschaft mit Schwerpunkt Soziolinguistik an der Uni Bern. Er erforscht unter anderem soziale Faktoren beim Wandel und bei der Variation des Schweizerdeutschen. Vielen bekannt ist die «Dialäkt Äpp» von ihm und seinem Team. Die User wählen für 16 Wörter ihre dialektale Aussprachevariante aus, und die App erkennt den Dialekt. Leemann wohnt mit seiner Familie und Hund Nemo im Kanton Aargau.
In welchen?
Früher hiess der heute verbreitete Schmetterling, der vom Deutschen kommt, vielerorts Sommervogel. Der Begriff breitete sich von den Städten her aus. Ähnlich war es mit den Sommersprossen. Im Kanton Bern sagte man früher Laubflecken, das gibt es kaum noch.
Gibt es auch den Fall, dass ein Wort vom Land in die Stadt wandert?
Das kommt vor. In Zürich sagt man dem «Riitiseilen» «Gireizlen», das haben sie von den Kantonen Thurgau und St. Gallen. In Bern sagt man «Sauz», «euf» und «zwöuf» anstatt «Salz» mit L, wie man es dort früher viel öfter hörte. Das kommt vermutlich vom Emmental.
Warum nimmt die Vielfalt ab?
Die Mobilität spielt eine grosse Rolle. Die Leute pendeln in verschiedene Dialektgebiete und passen sich einander an. Sie reduzierten dadurch Kommunikationsbarrieren. Man versteht einander besser, wenn beide «Brötli» sagen, als wenn der eine «Mütschli» sagt. Wer sich wem anpasst, hängt auch mit den Sympathien für eine Person und einen jeweiligen Dialekt zusammen. Meist übernimmt man mehr von einem Dialekt, der einen hohen Stellenwert hat.
Welche Region bleibt ihrem Dialekt besonders treu?
Der Walliser Dialekt ist sehr stabil. Durch die Berge sind die Menschen abgetrennt vom Rest. Wenn man sich nur mit Leuten aus einem kleinen Dorf unterhält, braucht man die eigene Sprachform immer wieder, man ist weniger angehalten dazu, Innovationen aufzunehmen. Zudem kennen sich die Menschen untereinander. Die soziale Kontrolle sorgt dafür, dass man bei der vertrauten Form bleibt. Dem Walliser Dialekt hilft es auch, dass die Menschen dort stolz auf ihren Kanton und ihren Dialekt sind. Übrigens ist man auch in Bern stolz auf den Dialekt.
Gibt es ein Wort, das Sie mögen, das am Verschwinden ist?
«Murmutz» oder «ds Inndri» – das, was drin ist – wie man früher in einigen Walliser Dörfern dem Apfel-«Bütschgi» sagte.
Trauern Sie als Sprachforscher den Verlusten nach?
Als Privatmann finde ich es manchmal schade. Als Linguist finde ich es interessant. Der Wandel gehört zum Leben. Ohne diesen gäbe es weniger zu erforschen.
Wieso reagieren viele mit Wehmut, wenn Wörter verloren gehen?
Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt in vielen Belangen früher besser war. Das spiegelt meines Erachtens unter anderem auch eine Angst vor Veränderung. Doch so viel passiert im Dialekt als Ganzes auch wieder nicht. Es verändert sich vor allem der Wortschatz.
Ist das nicht das Wichtigste?
Nicht unbedingt. Die Lautung zum Beispiel – «Schpäck» oder «Schpeck», «Tanne» oder «Tane» – bleibt oftmals sehr stabil. Genauso die Satzstellung. Beides macht unsere Sprachform im Wesentlichen aus. Ich meine: Wie oft sagt man im Monat Schmetterling? Selten. Die Lautung kommt ständig zum Einsatz. Um einen Dialekt zu erkennen, reicht ein kurzer Satz, selbst wenn er ohne Wort auskommt, das spezifisch in einem Dialekt vorkommt. In jedem Wort hat man Vokale, die einen verraten.
Haben Jüngere eine andere Einstellung zur Mundart als die Älteren?
Von den 1000 Leuten, die wir befragten, antworteten die älteren und jüngeren interessanterweise sehr ähnlich. Beide Generationen sind sehr stolz auf ihren Dialekt. Das bildet aber nur die Bevölkerung ab, die den ortsfesten Dialekt spricht. Nur sie haben wir untersucht. Die rund 40 Prozent mit Migrationshintergrund haben vielleicht einen anderen Bezug.
Wie sieht es bei denen aus?
Zwei Studentinnen von mir untersuchen das momentan im Rahmen von Abschlussarbeiten. Da zeichnet sich ab, dass diese sich noch viel mehr dem Standarddeutschen anpassen. Sie sagen eher «Kartoffle», «Träppe» oder «Pfärd».
Woran liegt das?
Bislang kann ich hier nur spekulieren: Es besteht die Möglichkeit, dass diese Personen vielleicht zu Hause keinen oder nur wenig Dialekt sprechen. Sie lernen also viele Wörter in der Schule, über die Schrift und wahrscheinlich auch über deutschländische Medien zuerst auf Hochdeutsch. Ein weiterer Grund könnte sein, dass sich durch diese hochdeutschen Wörter die Reichweite der Sprecherinnen und Sprecher vergrössert. Du wirst von mehr Menschen verstanden.
Warum gab es bei uns nie eine Standard-Mundart so wie das Rumantsch Grischun im Rätoromanischen?
Wenn wir schauen, wer im Fernsehen die Moderationen macht und wer im Bahnhof die Durchsagen, setzen sich schon bestimmte Dialekte durch. Die jetzige Bahnhofstimme spricht Hochdeutsch, ist aber mit einem Zürcher Dialekt gefärbt. Das würde mit einem berndeutschen Hochdeutsch nicht gehen.
Warum?
Studien haben gezeigt: Wenn es darum geht, Befehle zu erteilen, nimmt man in der Deutschschweiz Zürichdeutsch ernster, weil es auf alle kompetenter wirkt. Songs oder Geschichten finden die Leute wiederum auf Berndeutsch schöner. Offenbar transportiert dieser Dialekt viel mehr Emotionalität.
Das erklärt, warum so viele Mundartrocker aus dem Bernbiet Erfolg haben.
Es gibt noch eine andere Erklärung: Die beliebtesten Dialekte sind Feriendialekte: Wallis, Graubünden, Bern. In den Ferien machen die Leute positive Erfahrungen, die sie mit den Orten verbinden. Das überträgt sich auch auf die Musik.