Heinz Lohr über das Leben in der DDR
«Da begann ich, vom Westen zu träumen»

Am 9. November 1989, genau vor 36 Jahren, fiel die Berliner Mauer. Heinz Lohr (90) wuchs in der DDR auf. Im Gespräch mit seinem Enkel erzählt er von seiner Kindheit während des Zweiten Weltkriegs und dem eingeschränkten Leben in Ostdeutschland.
Publiziert: 17:06 Uhr
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Aktualisiert: 17:19 Uhr
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Heinz Lohr mit seiner Mutter Lotte Lohr (l.) und seinem Vater Max Lohr (r.).
Foto: Thomas Meier

Darum gehts

  • Über 100'000 Menschen versuchten zwischen 1961 und 1988 aus der DDR zu fliehen
  • Heinz Lohr berichtet über das Leben während des Zweiten Weltkriegs und in der DDR
  • Um seinen Traum zu verwirklichen, verliess Lohr den Osten und seine Familie
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«Bei uns im Osten gab es nur die nötigsten Lebensmittel. Manchmal blieb im Laden vom Fleisch nur noch der Knochen übrig», sagt Heinz Lohr (90). Er ist mein Grossvater und wuchs im Zweiten Weltkrieg im sächsischen Olbersdorf (D) auf. Nach Kriegsende teilten die Alliierten Deutschland in vier Besatzungszonen auf. Aus der westlichen entstand später die Bundesrepublik, aus der sowjetischen Zone im Osten die DDR. In dieser Zeit lebte mein Grossvater mit seinen Eltern Lotte und Max Lohr im Osten. Im Gegensatz zum Westen war dort vieles knapp. Begnügen musste man sich mit dem, was überhaupt erhältlich war – also mit «fast nix».

Heute lebt mein Grossvater mit seiner damaligen Jugendliebe in einem Einfamilienhaus in der Schweiz. Gestern vor einer Woche feierte er seinen 90. Geburtstag – ein guter Anlass, auf sein langes Leben zurückzublicken. Viele Erlebnisse, besonders aus seiner Kindheit, prägten ihn. Einige Erinnerungen sind bis heute lebendig: Von seinem Zimmer aus habe er einst gesehen, wie sich der Himmel rot verfärbte – ein Bombenangriff auf Dresden. Auch an den Einzug der Russen am Kriegsende erinnert er sich: Viele Häuser seien geplündert worden, Wertsachen seien verschwunden. «Unsere Schule konnten wir nicht mehr nutzen. Die Russen beschlagnahmten sie als Unterkunft», erzählt er. Der Unterricht fand daraufhin in Restaurants statt.

Erinnerungen an den Krieg

Mein Grossvater bringt eine grosse Schachtel, zeigt mir stolz seine Kindheitsfotos. Mein Blick bleibt an einem Bild hängen, das ihn gemeinsam mit seinem Vater zeigt. Der Mann wirkt schwach, abgemagert. Das Foto sei aufgenommen worden, als sein Vater aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Dieser habe an der Front gekämpft und sei danach in russische Gefangenschaft geraten. Es ist das erste Mal, dass er so offen mit mir darüber spricht. Während dieser Zeit habe sein Vater Dinge gesehen, die man nicht vergessen könne: «Mein Vater sah, wie andere Deutsche gezwungen wurden, ihr eigenes Grab zu schaufeln – und wie sie dann von den Russen erschossen wurden. Sie fielen direkt in die Grube, die sie selbst ausgehoben hatten.» Wie sein Vater aus der Gefangenschaft entkommen sei, wisse er bis heute nicht. Er habe nie darüber gesprochen.

Als sein Vater vom Krieg heimkehrte, sei er völlig geschwächt und am Boden zerstört gewesen. Viel Zeit mit der Familie blieb ihm nicht mehr. An die letzten gemeinsamen Momente kann sich mein Grossvater genau erinnern. «Wir schliefen im selben Zimmer. Plötzlich hörte ich, wie mein Vater nach Luft rang, schwer atmete. Ich dachte zuerst, er wolle mit mir scherzen. Doch er spielte nicht – er starb neben mir.» Der Krieg habe ihn nie ganz losgelassen.

Das Leben in einem neuen Land

Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs trat mein Grossvater in eine neue Epoche seines Lebens ein – die Zeit der DDR, die 1949 gegründet wurde. «Es gab kaum etwas zu kaufen. Die Läden waren leer, und wenn man etwas bekam, dann ohne Auswahl.» Lohr erinnert sich, wie die Menschen für eine einfache Wurst lange anstanden. Zu kaufen habe es nur eine Sorte gegeben. Zudem hätten sie Lebensmittelmarken gehabt, mit denen man bestimmte Waren nur in begrenzter Menge kaufen durfte. «Zum Glück hatte ich viele Freunde, deren Familien Bauern waren. Sie halfen uns oft mit Lebensmitteln aus.»

In der DDR hatten die Menschen zu Beginn weder Zeitungen noch Radiosender, die ein breites Bild aus der Bundesrepublik vermittelten. «Man wusste kaum etwas über das Leben im Westen. Es hiess nur, dass es dort alles gebe, was bei uns fehlte.» Autos gab es nur nach jahrelanger Wartezeit. «Mein Onkel wartete ganze sieben Jahre, bis er endlich eines bekam.» Ich greife nach einem Foto mit meinem Grossvater in jungen Jahren – «zu dieser Zeit habe ich dann begonnen, vom Westen zu träumen», sagt er.

Vom Schulhaus in die Druckerei

Ich schlage die nächste Seite des Fotoalbums auf. «Hier ging ich zur Schule», sagt mein Grossvater. Als er 15 Jahre alt war, besuchte ein Berufsberater die Schule und stellte verschiedene Lehrstellen vor. «Eine davon war als Buchdrucker – das hat mich sofort fasziniert.» Daraufhin bewarb er sich und begann die Ausbildung. Mein Grossvater hält mir eine Auszeichnung vor die Augen. «Was ist das?», frage ich. «Eine Auszeichnung zum besten Lehrling des Lernaktivs.» Er lächelt. «Drei Jahre lang lernte ich den Beruf, bis man mir sagte, ich müsse zur Volksarmee.» Als Dankbarkeit gegenüber dem Staat, der ihm die Lehre ermöglicht habe. «Das hat mir so gestunken.»

«Der Westen war wie eine andere Welt»

Bevor die Berliner Mauer gebaut wurde, galt: Wer Verwandte im Westen hatte, durfte sie besuchen. Mein Grossvater hatte Glück – er hatte Familie in Hamburg. Also meldete er der Armee, dass er sie vor Dienstbeginn besuchen wolle. Kurz darauf bekam er 1954 die Bewilligung. Für 14 Tage. «Als ich dann mit der Bahn im Westen ankam und die Städte, die Geschäfte, das Leben dort sah – das war für mich wie eine andere Welt.» Da dachte er sich: Ich gehe doch nicht mehr zurück. Er suchte Arbeit, fand eine Stelle in einer Druckerei und konnte gleich anfangen. «Ich fühlte mich zum ersten Mal wirklich frei.» Drei Wochen habe er gearbeitet, bevor er sich beim Einwohneramt anmeldete – «ab diesem Moment galt ich offiziell als flüchtig von der Armee».

In seinem Wohnblock besass ein Ehepaar Bücher über die Schweiz, erzählt er. «Als ich damals die Berge und Seen sah, wusste ich: Da will ich hin.» Während seiner Zeit in Hamburg bekam mein Grossvater dann über einen Brieffreund Fachzeitschriften aus der Schweiz zugeschickt. Darin entdeckte er ein Inserat der Firma Elco in der Schweiz. «Ich bewarb mich und bekam 1955 die Zusage. Damit begann ein neues Kapitel.» Von Hamburg nach Basel sei die Reise problemlos gewesen. «Ich war endlich in dem Land, von dem ich immer geträumt hatte.» Den Kontakt zu seiner Familie habe er über Briefe halten können. «Vielleicht einen pro Monat.»

Zwölf Jahre ohne Familie

Als die Mauer 1961 hochgezogen wurde, war Heinz Lohr bereits sechs Jahre in der Schweiz. Bereut habe er seine Entscheidung nie, sagt mein Grossvater. Nur: Seine Familie konnte er zwölf Jahre lang nicht sehen – das sei schwer gewesen. Erst mit dem Schweizer Pass und einer Bewilligung der Behörden wagte er sich wieder in den Osten. Ohne diese Dokumente, so ist er überzeugt, wäre er sofort festgenommen worden. Mein Grossvater drückt mir ein Bild von seiner Mutter in die Hand. «Als ich meine Mutter endlich wiedersah, war das ein ganz besonderer Moment. Sie hat meine Entscheidung, in den Westen und später in die Schweiz zu gehen, immer verstanden – auch wenn es für sie schwer war.» Lotte Lohr lebte in Olbersdorf, wo sie 2016 im Alter von 100 Jahren verstarb.

Zwischen 1961 und 1988 versuchten über 100'000 Menschen aus der DDR in den Westen zu fliehen. Mehr als 600 kamen dabei ums Leben. Am 9. November 1989, vor genau 36 Jahren, fiel nach einer friedlichen Revolution die Berliner Mauer.

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