Die gute Nachricht vorneweg: Wenn der Nebel kommt, gelassen bleiben, er wird sich eines Tages wieder lichten. Man kann diesen Prozess beschleunigen: mit Training, Training und nochmals Training. Nicht einmal die Woche, sondern täglich.
Am Anfang denkt man bei jedem Missgeschick: kann mal passieren. Doch allmählich realisiert man: Man verschwindet im Nebel, das Denken wird verlangsamt, man denkt in Zeitlupe. Einen banalen Einkauf von ein paar Cherrytomaten und einem gefrorenen Pangasius muss man planen wie Magellan seine Weltumsegelung. Hat man ausnahmsweise das Portemonnaie nicht vergessen, weiss man nicht mehr, was man einkaufen wollte. Steht man morgens auf die Waage, hat man nach drei Sekunden das Gewicht wieder vergessen, geht man ins Wohnzimmer, weiss man nicht mehr so genau, was man dort wollte.
Aus der Uhrzeit wird ein Wochentag
Das passiert auch gesunden Menschen ab und zu, mir passierte es 30 Mal am Tag. Ich vergass meine Passwörter und vergass auch, wo ich diese hinterlegt hatte. In meiner Agenda verwechselte ich Uhrzeiten mit Wochentagen. Die Handhabung von vertrauten Geräten wie Kaffeemaschine, Fernbedienung oder iPad wurde anspruchsvoll.
Claude Cueni (69) ist eine Ausnahmeerscheinung, als Patient und als Autor. Die Ärzte sprechen von einem «ungewöhnlichen» Krankheitsverlauf, er selbst nennt sich augenzwinkernd «der Autor, der niemals stirbt». 2009 erkrankte er an einer akuten lymphatischen Leukämie, fiel infolge von Hirnblutungen ins Koma und überstand nach Chemotherapien, Bestrahlungen und einer Knochenmarktransplantation den Blutkrebs. Seitdem leidet er an einer chronischen Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD), in deren Verlauf 55 Prozent der Lunge abgestossen wurden.
Obschon seine Krankenakte umfangreicher ist als das Werk manch anderer Literaten, gehört Cueni zu den produktivsten – und eigenständigsten – Autoren des Landes. Er schrieb Theaterstücke, Hörspiele, über 50 Drehbücher für Film und Fernsehen («Tatort», «Peter Strohm», «Eurocops») sowie Computerspiele. Seine historischen Romane wurden Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt, zudem war er langjähriger Blick-Kolumnist. Zuletzt erschien sein Bildband «Small Worlds II», dieses Jahr wurden seine Dioramen in der Basler Galerie Sarasin Art ausgestellt.
Claude Cueni (69) ist eine Ausnahmeerscheinung, als Patient und als Autor. Die Ärzte sprechen von einem «ungewöhnlichen» Krankheitsverlauf, er selbst nennt sich augenzwinkernd «der Autor, der niemals stirbt». 2009 erkrankte er an einer akuten lymphatischen Leukämie, fiel infolge von Hirnblutungen ins Koma und überstand nach Chemotherapien, Bestrahlungen und einer Knochenmarktransplantation den Blutkrebs. Seitdem leidet er an einer chronischen Graft-versus-Host-Reaktion (GvHD), in deren Verlauf 55 Prozent der Lunge abgestossen wurden.
Obschon seine Krankenakte umfangreicher ist als das Werk manch anderer Literaten, gehört Cueni zu den produktivsten – und eigenständigsten – Autoren des Landes. Er schrieb Theaterstücke, Hörspiele, über 50 Drehbücher für Film und Fernsehen («Tatort», «Peter Strohm», «Eurocops») sowie Computerspiele. Seine historischen Romane wurden Bestseller und in zahlreiche Sprachen übersetzt, zudem war er langjähriger Blick-Kolumnist. Zuletzt erschien sein Bildband «Small Worlds II», dieses Jahr wurden seine Dioramen in der Basler Galerie Sarasin Art ausgestellt.
Ich war ständig erschöpft. Auch nach zehn Stunden Schlaf. Die Tagesstrukturen lösten sich auf, der Alltag wurde zur Comedy. Blackouts in der Endlosschlaufe.
Hatte ich früher einen 500-seitigen historischen Roman von Anfang an wie einen Film vor Augen und konnte frühmorgens beinahe wie ein Sekretär die Fortsetzung schreiben, vergass ich nun Teile der Handlung, schrieb Abschnitte, die ich bereits am Vortag geschrieben hatte, Figuren aus älteren Romanen rutschten in die Szene, die ich gerade schrieb. Den Worten flogen die Buchstaben davon, aus einem Tisch wurde ein Fisch. Baute ich ein Diorama, fügte ich zusammen, was nicht zusammengehört, und meine Miniaturwelten wurden zu kafkaesken Ruinen.
Man stirbt, bevor man gestorben ist
Wenn der Nebel kommt, meidet man soziale Kontakte. Das ist gegenseitig. Es gibt eine Karikatur, die zwei Menschen in einer menschenleeren Friedhofskapelle zeigt. Sie staunen über die leeren Sitzbänke. Sagt der eine zum andern: Dabei hatte er 5000 Facebook-Freunde. Wenn man an Leukämie, Bronchiolitis obliterans und chronischer GvHD erkrankt und statistisch gesehen keine Überlebenschancen hat, stirbt man, bevor man gestorben ist. Denn viele denken, wieso soll ich mit dem noch Spaghetti essen, der stirbt ja eh bald. Und wenn man immunsupprimiert ist, weil man weitere Organabstossungen verhindern muss, meidet man eh die meisten Anlässe.
Ich verbrachte 15 Jahre lang jeden Winter in freiwilliger Quarantäne. Das war das Geheimnis meiner Produktivität. Man wird zum Robinson der Grossstadt. Das Einzige, was unter der Nebeldecke weiter funktionierte, war die Kreativität. Die einen haben die Musik im Blut, andere die Kreativität, das kann man nicht abschalten.
Aber das war nicht der Grund, wieso ich weiterhin jedes Jahr einen neuen Roman publizierte. Der Grund hat einen Namen: Dina, meine absolut aussergewöhnliche Frau.
Dina, die starke Frau neben dem kaputten Mann
Man sagt oft: Hinter einem erfolgreichen Mann liegt eine kaputte Frau, bei uns ist es nach 15 Jahren umgekehrt, neben einem kaputten Mann steht eine starke Frau. Dina habe ich es zu verdanken, dass ich das jahrelange Martyrium unter dem Damoklesschwert bewältige, dass ich Schmerzen ertrage, die Spätfolgen der Bestrahlungen und zwei neue Krebserkrankungen. Dina hat die philippinische Sonne zu mir gebracht und schliesslich den Nebel gelichtet.
Man darf nicht unterschätzen, was die gesunden Partner oder Partnerinnen leisten. Ich kenne beide Situationen. Meine verstorbene erste Frau, sie starb ein Jahr vor meiner Leukämieerkrankung, hatte Brust- und später Darmkrebs und wollte am Ende keine Spitex, sondern nur von mir gepflegt werden, 24 Stunden am Tag. Das war für uns normal, das hatten wir uns als Teenager versprochen. Heute erlebe ich die andere Situation und weiss, dass auch der gesunde Partner oder die Partnerin Pausen braucht. Zum Auftanken. Auf einer Bergwanderung oder einem Cityflug mit Freundinnen. Das kommt beiden zugute.
Kopfrechnen, Memory, Songs aus der Teenagerzeit
Was hilft gegen den Nebel im Gehirn? Ein strukturierter Tagesablauf mit fest eingebauten Trainingseinheiten. Fast alles, was man regelmässig tut, wird zur Gewohnheit. Sowohl das Gute als auch das weniger Gute. Als ich nicht mehr alleine die Wohnung verliess und nur noch mit Dina einkaufen ging, merkte ich mir die Preise der einzelnen Lebensmittel und addierte sie im Kopf. An der Kasse verglich ich meinen Saldo mit dem Kassenzettel. Am Anfang war ich nur erfolgreich, wenn wir nicht mehr als zwei Nahrungsmittel einkauften. Heute bin ich im Kopfrechnen wieder stärker als andere mit dem Taschenrechner.
Ich spiele noch heute jeden Morgen Memory und singe die Hits, die mir als Teenager gefallen haben. Da fühlt man sich zurückversetzt in die Zeit, als das Leben noch unbeschwert war, als das Leben noch kein Verfalldatum hatte und kranke Menschen zu einer anderen Spezies gehörten. Man kann nicht singen und sich gleichzeitig sorgen. Singen ist auch gut für die Lunge, meine wurde von den fremden Blutstammzellen zu 55 Prozent abgestossen, und da ich die Songtexte auswendig lerne, ist Singen auch gut für das Gedächtnis.
Da ich aufgrund anderer Spätfolgen nicht mehr täglich stundenlang tippen konnte, baute ich Dioramen, Miniaturwelten, Szenen von Romanen, die ich nicht mehr schreiben werde. Mittlerweile über hundert.
Selbstmitleid ist Zeitverschwendung
Obwohl der Nebel jetzt verschwunden ist, habe ich die täglichen Trainings beibehalten. Sie sind zur Gewohnheit geworden. Geblieben ist die Erkenntnis: Selbstmitleid ist Zeitverschwendung, auch das Mitleid der andern ist nicht hilfreich. Die Zeit bleibt nicht stehen, sie wartet auf niemanden, sie wartet nicht, bis man die Krankheit akzeptiert hat. Es ist auch Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, wieso man an Leukämie oder an einer anderen schweren chronischen Krankheit erkrankt ist. Auch zweijährige Kinder erkranken leider an Leukämie, und sie standen in keinem Arbeitsverhältnis und waren auch nicht unglücklich verheiratet.
Man sollte nicht hadern mit all den Dingen, die man nicht mehr tun kann, sondern schätzen, was noch möglich ist. Man kann die Krankheit nicht ändern, aber die Einstellung dazu. Der Mensch ist viel stärker, als er glaubt, sonst hätte unsere Spezies gar nicht überlebt. Das Leben bleibt interessant, lernen macht es noch interessanter. Dina sagt manchmal: «Wenn man in der Schweiz lebt, ist man vom Glück begünstigt, und wenn man dann noch im Basler Unispital behandelt wird, ist man auch trotz Leukämie ein Glückspilz.»
Never give up!
Im Herbst wurde ich als Langzeitüberlebender mit ungewöhnlichem Krankheitsverlauf zum Patiententag der Hämatologie des Basler Unispitals eingeladen. Das Gespräch mit der Chefpsychologin Birgit Maier hat vielen Mut gemacht. Deshalb habe ich diese Zeilen geschrieben. Ich hoffe, der eine oder die andere kann davon profitieren.
In diesem Sinne wünsche ich allen Betroffenen und ihren Nächsten vom Guten das Beste. Man stirbt heute nicht mehr so schnell. Die Medizin macht laufend erstaunliche Fortschritte und dank KI in immer kürzeren Abständen. Never give up! Nicht aufgeben!