Wir haben euch gefragt, welche Themen von uns zu wenig Beachtung erhalten. Am spannendsten fand die Community den Vorschlag von BLICK-Leser Michael: «In der heutigen Welt bestimmen Persönlichkeitsstörungen wie Narzissmus und Borderline alles Tun. Eine Aufklärung hilft, zu verstehen, weshalb die Menschen so sind.»
Wir haben daher BLICK-Leserinnen und BLICK-Leser gesucht, die unter einer Persönlichkeitsstörung leiden und ihre Geschichte erzählen wollen. Die Enttabuisierung ist viel wert, sagt auch Michael Rufer, Chefarzt und stv. Klinikdirektor der Erwachsenenpsychiatrie der psychiatrischen Universitätsklinik Zürich: «Erzählen Betroffene in den Medien von ihren Problemen, fassen oftmals andere Betroffene den Mut, sich Hilfe zu suchen.»
Triggerwarnung: In diesen Erzählungen kommen Menschen zu Wort, die unter anderem unter Missbrauch, Selbstverletzung oder Suizidgedanken gelitten haben oder immer noch darunter leiden. Hilfsangebote für Betroffene sind unten ersichtlich.
Gabriella (59): «Es heisst immer: Die spinnt doch.»
«Ich arbeitete im Altersheim und hatte 2019 ein schlimmes Erschöpfungsburnout verbunden mit Angststörungen und Panikattacken. Die Diagnose Persönlichkeitsstörung habe ich erst vor sechs Monaten von meinem Vertrauensarzt erhalten. Jetzt ist mir klar, dass ich das schon seit Kindheit habe. Ich fühle mich wie ein anderer Mensch. Für mein Umfeld ist das manchmal ganz schlimm. Ich habe Mühe, mich selbst mit dieser Diagnose zu akzeptieren. Manchmal muss ich mich extrem zurückziehen und traue mich nicht mehr unter Leute. In solchen Momenten muss ich ganz alleine sein. Ich bin noch ganz am Anfang des Prozesses und muss erst lernen, die Krankheit zu akzeptieren. Man sieht es mir nicht an. Aber mein Inneres sieht ganz anders aus.
Die meisten Leute verstehen es nicht, wenn ich unter Menschen, an einem Geburtstag oder einer Einladung plötzlich in Tränen ausbreche, weil ich merke, dass ich anders bin. Wie erklärt man das? Mit der Familie fällt es mir leichter, darüber zu sprechen. Ich gehe auch in die Gruppentherapie. Wegen Corona ist das zur Zeit leider nicht möglich. Die Gespräche mit anderen Betroffenen helfen mir sehr. Medikamente wollte ich eigentlich nicht, ich benötige aber ein paar wenige, um durch den Alltag zu kommen. Von klein auf hatte ich mich nie richtig wohlgefühlt in meiner Haut. Meine Eltern waren unglaublich streng. Ich konnte ihnen nie etwas recht machen und meine Mutter nannte mich mehrmals einen Unfall, den sie gar nicht haben wollte. Mein Vater liess mich keine Lehre machen, weil ich angeblich zu dumm dafür sei.
Dass ich das alles aufarbeiten kann, wird schwierig. Ich bin aber jede Woche in einer Gesprächstherapie mit meiner Psychiaterin. Draussen in der Welt versteht das kaum jemand. Es heisst immer: Die spinnt doch. Depressive und psychisch Kranke werden immer noch ausgeschlossen und als minderwertig angesehen. Wichtig ist, dass man sich akzeptiert und lernt, damit zu leben. Ich bin da noch am Anfang. Man darf die Hoffnung nicht verlieren. Wenn ich wieder einen Dämpfer habe und die Gedanken kreisen, benutze ich meine Achtsamkeit-App, male Mandalas, mache Handarbeiten oder gehe raus in die Natur.»
Melanie* (45): «Langsam lerne ich, Hilfe anzunehmen»
*Name geändert
«Dass ich unter einer bipolaren Störung leide, weiss ein Teil meiner Familie erst seit Kurzem. Ich habe mich zu stark geschämt, mich zu outen. Ebenfalls mit Scham verbunden ist mein Gefühl, dass schlecht über mich geredet werden könnte. Die Menschen haben Vorurteile wie: ‹Die sitzt den ganzen Tag zuhause, dabei merkt man ihr gar nichts an.›.
Schon in meiner Jugend hat man mir gesagt, ich sei in einem Moment himmelhoch jauchzend, im nächsten zu Tode betrübt. Dann hiess es: ‹Reiss dich zusammen, streng Dich an!› Ich konnte das nicht einordnen, aber fühlte, dass ich irgendwie anders bin. Über Jahre litt ich an depressiven Phasen, nach der Geburt unserer Töchter unter postnatale Depression. Ich suchte Unterstützung bei einer Psychologin und trat 2010 in eine psychiatrische Station ein. Dort erhielt ich die Diagnose bipolare Störung. Dank den entsprechenden Medikamenten ging es mir einige Jahre relativ gut.
2017 fing ich an, nachts zu arbeiten, was für die bipolare Störung absolut kontraproduktiv ist. Das wusste ich damals nicht, 2018 brach deshalb das ganze Kartenhaus zusammen. Ich war einerseits stark depressiv, andererseits getrieben und hatte Manien. Dann beginne ich schnell und viel zu reden, mache kaum nachvollziehbare Gedankensprünge und fühle mich, wie wenn ich Tausende Rumpelstilzchen in mir hätte. Weil ich das nicht mehr aushielt, kamen Suizidgedanken auf. Ich begab mich auf die Krisenstation einer psychiatrischen Klinik und später auf die psychosomatische Abteilung.
Nebst verschiedenen Therapien wurden die Medikamente eingestellt. Aktuell kommt wöchentlich die Psychiatrie-Spitex zu mir, zusätzlich habe ich Termine bei meiner Psychiaterin. Ausserdem bin ich zwei bis drei Mal wöchentlich jeweils morgens für ein paar Stunden in eine Tagesstruktur für Ähnlichbetroffene eingebunden. Langsam lerne ich, mich zu spüren und Hilfe anzunehmen, bevor es mir richtig schlecht geht. Im Moment lassen meine Kräfte nach und ich trete am 1. April zur erneuten Therapie auf eine psychosomatische Station ein. Scham spielt bei mir immer noch eine grosse Rolle, ich lerne aber, damit umzugehen und dazu zu stehen. Das Allergrösste ist die jahrelange Unterstützung meines Ehemannes, meiner Familie und Kinder.»
Simone* (28): «Ich habe meiner Schwester erzählt, dass ich nicht mehr leben wollte»
*Name geändert
«In meinem Leben ist zu viel falsch gelaufen. Als Fünfjährige wurde ich von meinem Vater missbraucht. Mit zwölf Jahren habe ich angefangen, mich selbst zu verletzen. Zu Beginn habe ich das versteckt, aber eines Tages hat mich meine Schwester gesehen. Es ging mir von Tag zu Tag schlechter. Ich habe meiner Schwester erzählt, dass ich nicht mehr leben wollte und daraufhin hat sie mich zur Psychiatrie gefahren. Für den Moment hat mir das geholfen. Ein paar Wochen war ich dort. Doch ich konnte die Hilfe nicht annehmen. Ich hatte das Gefühl, dass alles okay ist und dass diese Stimmungsschwankungen zum Leben eines Teenagers dazugehören. Ich musste dann aber begreifen, dass das nicht nur eine Phase ist.
Bis ich 16 Jahre alt war, dachte ich, dass es sich um schwere Depressionen handelt. Mit 18 dann die Diagnose: Borderline Störung. Ich wusste nicht, was das ist und musste nachlesen. Da merkte ich, dass vieles bei mir zutrifft. Ich war extrem impulsiv, es war mir alles scheissegal und ich spielte mit meinem Leben. Seither hatte ich mehrere Klinikaufenthalte und bin regelmässig in der Psychotherapie. Momentan geht es mir ziemlich gut, ich habe mich seit zwei Monaten nicht mehr selbst verletzt und mein letzter Klinikaufenthalt war im Oktober 2020. Das stimmt mich zuversichtlich. Auf meinen Wunsch hin konnte ich sogar die Medikamente absetzen und das hat gefruchtet.
Mein Rat an andere Betroffene: Sprecht darüber, sucht euch Hilfe und nehmt die Gedanken, die ihr habt, bitte ernst und reagiert darauf. Mein Mann hat mir dabei sehr geholfen und mich stets unterstützt. Ohne Unterstützung kann man das nicht schaffen.»
Markus (56): «Die Polizei lieferte mich direkt in die Anstalt ein»
«Schon als Teenager war ich etwas instabil, Belastungen schlugen mir auf den Magen, mir war speiübel und ich war ein sehr unsicherer Mensch. Sobald eine Veränderung anstand, stellte sich mein Körper quer. Damals konsultierte ich einen Psychologen und dieser stellte fest, dass meine Probleme psychosomatisch sind. Dass es sich um Borderline handelt, wusste man damals noch nicht. Ich wurde als kleines Kind von meinen Eltern adoptiert. Als später mein Bruder geboren wurde, fühlte ich mich schnell wie das fünfte Rad am Wagen. 1994 habe ich dann geheiratet und wir bekamen eine Tochter. Leider wollte meine damalige Frau dann 2001 die Scheidung. Das hat mich sehr verletzt und psychisch folgte darauf eine schlimme Phase.
Ich habe zwei Packungen Schlaftabletten genommen. Vier Tage später bin ich im Krankenhaus wieder aufgewacht. Ich bin total abgestürzt und musste wieder zum Psychologen. Durch die Gespräche und Antidepressiva bin ich dann langsam darüber hinweg gekommen. Ich habe 2015 eine neue Wohnung gefunden und eine Kollegin ist bei mir eingezogen. Leider hat auch das nicht lange geklappt. Als sie ausgezogen ist, hatte ich wieder Selbstmordgedanken. Die Polizei hat mich daraufhin direkt in eine geschlossene Anstalt eingeliefert.»
Man fällt vor Enttäuschung in ein Loch
Ende 2015 musste ich dann bei einer Ärztin einen Borderline-Test und eine zehnwöchige Therapie machen. Da kam die Diagnose und mir war endlich klar, woher diese unkontrollierbaren Gefühle kommen. Weshalb ich so impulsiv auf Konflikte reagiere, wieso ich Angstzustände und Panikattacken habe, warum ich mich selbst verletze. Ich hatte Angst, verlassen zu werden und allein zu sein. Das ist typisch Borderline. Man fängt an zu klammern und erwartet Dinge, die nicht erfüllt werden und fällt dann vor Enttäuschung in ein Loch.
Zum Glück haben die Medikamente dagegen geholfen. Das Wichtigste ist für mich, dass es keine Medikamente sind, die auf der Benzo Liste stehen, also hochgradig abhängig machen. Temesta ist beispielsweise so ein sehr starkes Mittel. Viele Leute mit Borderline fühlen eine chronische Leere in sich und haben einen Hang zu Suchtmittel. Das war bei mir zum Glück nie der Fall. Kontakt zu anderen Menschen habe ich zwar kaum. Meine Eltern sind beide gestorben und viele meiner Freunde haben sich wegen meiner Krankheit von mir abgewendet. Wenn ich ein Problem habe, gehe ich zu meinem Psychiater oder ich rufe das Kriseninterventionszentrum (KIZ) an.
Man wird oft abgestempelt
Mein Rat für andere Betroffene: Du musst dafür sorgen, dass es für dich stimmt. Versuche, zurückhaltend mit deinen Erwartungen zu sein, sonst ist die Enttäuschung umso grösser. Und mache jeden Tag etwas, das dir gut tut. Als Mensch mit Borderline wird man oft abgestempelt und diskriminiert. Man sollte sich möglichst nicht mit negativen Sachen beschäftigen und mehr Zeit für sich selbst nehmen. Ich fahre nur noch mit dem Velo. Seit 30 Jahren bin ich im Veloclub und früher bin ich auch Rennen gefahren. Intensiver Sport hat mir schon immer sehr geholfen.»
Die Dargebotene Hand:
Das Sorgentelefon (Tel. 143) ist rund um die Uhr erreichbar
www.143.ch
Pro Mente Sana:
Die Stiftung bietet verschiedene Beratungsangebote:
www.promentesana.ch
Tipps für die psychische Gesundheit während Corona:
www.dureschnufe.ch
www.psychologie.ch
Tipps zu Trauerbewältigung und Selbsthilfe:
www.selbsthilfeschweiz.ch
www.gute-trauer.de
Die Dargebotene Hand:
Das Sorgentelefon (Tel. 143) ist rund um die Uhr erreichbar
www.143.ch
Pro Mente Sana:
Die Stiftung bietet verschiedene Beratungsangebote:
www.promentesana.ch
Tipps für die psychische Gesundheit während Corona:
www.dureschnufe.ch
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Tipps zu Trauerbewältigung und Selbsthilfe:
www.selbsthilfeschweiz.ch
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