Der Versuch, an der Moskauer Motorshow eine Frage zu stellen, scheitert meist an «Sorry, little English!». Oder auch daran, dass Sergej, mit seiner teuren Armbanduhr als potenzieller Kunde erkennbar, wichtiger ist. «Sergej» ruft mein Gesprächspartner am Stand eines Tuners mitten im Antwortsatz – und ist weg: Willkommen zur MIAS (Moskau International Automobile Salon), der Moskauer Motorshow! Der Ruf nach englischem Infomaterial verhallt so ungehört in den weitläufigen, gepflegten Hallen wie jener nach mehr Demokratie in der Taiga. Sergej ist wichtiger, denn Sergej ist der Kunde und in Russland nicht grundlos König. 2011 legte der russische Automarkt 39 Prozent zu! Das Tempo, mit dem das Schwellenland – analog zu Brasilien, China, Indien und Co. – autoseitig auf der Überholspur fährt, ist atemberaubend. Wenn sie frei ist, die Überholspur: Moskau gleicht mit inoffiziell 15 Millionen Bewohnern einem riesigen Stau mit Häusern dazwischen; drei Stunden Arbeitsweg sind ganz normal.
Im Stau aber möchte Sergej sich wohl fühlen. Das fällt ihm nicht immer leicht, denn noch immer sind die Einkommensunterschiede extrem. Erst langsam entwickelt sich ein Mittelstand; die automobile Grundversorgung liegt (noch) in der Hand von Lada mit gut einem Fünftel Marktanteil. Auf Rang zwei bis vier folgen Chevrolet, Hyundai, Renault (inklusive Dacia) und Kia und setzen dem Volkswagen der Russen zu. Dass Sergej Lada die Treue hält, hat mit Tiefstpreisen ab 6000 Franken und Produkten wie dem heuer nach 40 (!) Jahren ausgelaufenen Fiat-Klon 2107, hohen Strafsteuern auf Importe, einer Prise Nationalstolz und, so raunt ein russischer Journalist, «mit Putins schützender Hand» zu tun. An der Show glänzt eine Studie, die den arg benötigten Neustart signalisiert. Der X-Ray Concept zeigt, wohin Lada will, wenn Renault-Nissan bis 2014 die Mehrheit übernimmt und diesen Staats- zum Renditeladen machen will. «Wir wollen Aufbruch signalisieren, Lada ein neues Gesicht geben, neue Segmente erobern», erläutert mir Designchef und Ex-Volvo-Stylist Steve Mattin, «aber Lada bleiben. Sie können sich vorstellen, dass das in Russland nicht immer einfach ist.»
Doch es lohnt. Inzwischen rangiert Russland mit 2,7 Millionen Verkäufen im Jahr zwischen Deutschland und vor Indien auf Rang sechs der grössten Automärkte der Erde. Auch deshalb stellt Mazda die einzig grosse Serienneuheit der Show nicht am Pariser Salon im Oktober, sondern hier vor. Zuletzt vom starken Yen gebeutelt, aber produktseitig prima aufgestellt, demonstriert Mazda mit dem neuen 6, wer in Japan die Designhosen anhat. Gross ist die Mittelklasselimousine geworden mit ihren 4,87 Metern Länge, vor allem aber sehr, sehr hübsch: Aus der Ferne ist sie eine elegante Limousine, die das Prädikat «viertüriges Coupé» tragen könnte; aus der Nähe cool und muskulös. «Ein wesentlicher Teil unserer Zukunft als Marke liegt in Russland», betont Mazda-Boss Takashi Yamanouchi. Dem boomenden Markt wird signalisiert, wie ernst es Mazda mit Russland meint: Im Oktober startet die Montage im neuen, ersten russischen Mazda-Werk; zuerst läuft der CX-5, später des Mazda 6, für den Russland der zweitwichtigste Markt hinter den USA werden soll, vom Band. Wir Europäer bekommen die dritte Generation des 6, der sich bei unserer Sitzprobe als enorm geräumig und nobel eingerichtet entpuppt, im November. Unter der Haube stecken dann vier Benziner und Diesel mit einer Bandbreite von gut 160 bis 200 PS.
Während der Kombi, der im Dezember folgt, bei uns drei Viertel der Kunden findet, tickt Russland anders. Ohne Stufenheck geht es hier nicht. Denn Sergej greift selbst bei Klein- und Kompaktwagen zum Viertürer. Entsprechend sehen die Neuheiten an der Show aus: Opel zeigt den Astra Sedan, eine elegante und für 25'400 Franken ab Oktober auch bei uns erhältliche Variante des frisch gelifteten Astra. Bei Peugeot steht der 408 (Stufenheckversion des 308), bei Nissan ein Almera mit Stufenheck. Sollte Sergej im Lotto gewinnen, findet er ebenfalls, was er sucht. Audi zeigt den gelifteten R8 und BMW den frischen 7er. Doch wahrscheinlicher ist, dass Sergej sich einen SUV leistet. Die gelten in Russland als hipp, was weniger mit Schlammpisten in Sibirien als Geltungssucht der Städter zu tun hat. Für schmale Geldbeutel muss es kein teures Westprodukt sein: Noch immer gibt es sie, russische Marken wie ZAZ, die sich meist mit Lizenzbauten aus Asien über Wasser halten – oder eben UAZ. Dort steht am Stand noch immer jener seit 1973 gebaute Militärgeländewagen, der in Hollywoods Geheimdienstthrillern zum Standarddekor gehört. Heute heisst er zwar modisch Hunter, ist aber unverändert rustikal gestylt wie ein Plattenbau. Vielleicht deshalb ist die Dichte an Hostessen an den Pressetagen der Show gefühlt höher als jene der Journalisten: Wenn schon nichts Neues, dann bitteschön hübsch drapiert.