Um ehrlich zu sein, sagt Councillor Michael Cooper mit einem müden Blick, habe er diesen Job nicht mal gewollt. Er sei da reingerutscht, auf die Liste gekommen, alle hätten ihm gesagt, das sei nur pro forma, gewählt wirst du nicht, keine Sorge. Und nun ist er hier, seit zwei Jahren Ratsvorsitzender der Stadt Boston in der englischen Grafschaft Lincolnshire, und ergibt sich seinem Schicksal, «weil kein Mensch sonst diesen Job will».
Boston, das ist eine Kleinstadt drei Autostunden von London entfernt, 20 Autominuten bis zur Nordsee, mit einer schönen alten Kathedrale, einem historischen Marktplatz und einer kalten, beissenden Bise, die die Möwen vom Meer in die Stadtmitte trägt. Früher, sagen die Einheimischen, sei dieser Ort verschlafen gewesen; es gibt noch immer Traktorschauen, und jeden Mittwoch ist Markt, dann präsentieren die Menschen ihr Gemüse von den riesigen Feldern ausserhalb des Orts, frische Kartoffeln, Brokkoli, Lauch. Und im Sommer kommen die Touristen, bestaunen die Kirche und den Fluss und die alten Häuser und fahren dann wieder heim.
In Boston wollten 75,6 Prozent die EU verlassen
Boston, das ist auch die Kleinstadt, die weltweit in die Schlagzeilen geriet, weil am 23. Juni 2016 75,6 Prozent der Bewohner für den Brexit stimmten – landesweiter Spitzenwert. Nirgends sonst wollten so viele Menschen aus der Europäischen Union (EU) austreten. Eigentlich hätte Grossbritannien die EU am 29. März verlassen sollen. Vergangene Woche stimmte das Parlament aus Angst vor einem ungeordneten Ausstieg einer Fristverlängerung zu. Was aber passieren wird– harte Grenzen, Deal mit Brüssel – das weiss im Moment niemand. Und auch was der Brexit wirklich bedeutet in seiner Konsequenz. Kein Politiker, kein Bürger, kein Zugewanderter, kein Beobachter. Aber die Menschen in Boston wissen: So, wie es jetzt ist, wollen wir es nicht mehr haben.
Seit 2004 die Grenzen nach Osten öffneten, habe sich dieser Ort verändert, sagen die Einwohner. Seit der Ost-Erweiterung der Europäischen Union sind viele Menschen auf der Suche nach Arbeit und mit Hoffnung auf eine bessere Zukunft nach Boston gekommen – und im Gegensatz zu früher, wo sie als illegale Feldarbeiter kamen und gingen, konnten sie dank der Personenfreizügigkeit bleiben. Die Einwohnerzahl in Boston hat sich seit 2001 fast verdoppelt, von 35 000 auf offiziell 65 000, «aber inoffiziell sind es wohl noch 20 000 mehr», sagt Councillor Cooper, Mitglied der konservativen Partei. Zu viel für den kleinen, geografisch isolierten Ort in einer der ärmsten Regionen des Landes.
Lange Wartezeiten und grosser administrativer Aufwand
Die Stadt war schlecht auf den Ansturm von ausländischen Arbeitskräften vorbereitet – die Infrastruktur hielt nicht mit. Plötzlich mussten Einwohner aus Boston 14 Tage auf einen Arzttermin warten, Stunden im Spital, die Kinder meilenweit in die Schule schicken, weil die örtlichen Behörden ausländischen Kindern den Vorrang gaben. Die Immobilienpreise stiegen in die Höhe, weil korrupte Geschäftsleute Profit aus den Ankömmlingen schlagen wollten und aus ganzen Häusern kleine Apartments mit zig Zimmern zimmerten. Die Polizei benötigt Übersetzer für über ein Dutzend neuer Sprachen, der bürokratische Aufwand wächst ins Unermessliche.
Die ewige Ungewissheit macht die Einwohner verrückt
Hana Rafajova unterstützt die Polizei bei Übersetzungsarbeiten. Die 38-jährige Tschechin lebt seit 2005 in Boston, sie kam als junge Frau hierher, um ihr Englisch zu verbessern. Ihr Mann ist Engländer, sie spricht mehrere Sprachen, ihr Kind geht hier zur Schule. Der Brexit macht ihr Angst. «Für mich und meine Freunde war die Zeit nach 2016 eine schwierige. Diese ewige Ungewissheit, sie macht mich verrückt», sagt sie. Es habe sie verletzt, dass ihr Partner, der bei der Polizei arbeitet, für den Brexit gestimmt hat – «ich fühlte mich betrogen».
Sie nennt die letzten zwei Jahre «times of darkness», düstere Zeiten. Sie habe sich überlegt, zurück nach Tschechien zu gehen. «Doch Boston ist meine Heimat geworden, mein Kind ist hier geboren und aufgewachsen, es zu entwurzeln, ist nicht das, was ich möchte», sagt Rafajova. Vor 2016 sei ihre Herkunft kaum ein Thema gewesen, «doch plötzlich spürte ich Hass von den Einheimischen, manche murmelten, ich solle zurück in mein Scheiss-Land, wenn ich mit meinem Kind in meiner Muttersprache sprach». Die Stadt, die Schulen und die Polizei bräuchten mehr Geld für die Unterstützung und Integration der Menschen, die Situation sei ausser Kontrolle geraten.
Boston hat eine 1000 Jahre alte Tradition im Handel mit Europa, früher Wolle, jetzt Gemüse. «Wir waren immer ein Ort für Einwanderer, wir brauchten ihre Arbeitskraft. Doch in den letzten Jahren kamen zu viele Menschen in zu kurzer Zeit», sagt Ratsvorsitzender Cooper, deshalb habe er für den Brexit gestimmt, um die Einwanderung zu regulieren, «und weil wir uns von Brüssel nicht mehr die Gesetze diktieren lassen wollen». Ja, er trötzle wie ein zweijähriges Kind, unvernünftig; und ob der Brexit das Richtige sei, wisse auch keiner, «aber es fühlt sich richtig an», sagt Cooper. Und das sei momentan das Wichtigste.
Mit ihm zusammen hat eine grosse Mehrheit der Stadt für den Brexit gestimmt, so prophezeit der Ratsvorsitzende: «Sie werden kaum jemanden finden, der nicht für den Brexit war, und wenn, dann wird er es nicht zugeben.»
Jemand, der gegen den Brexit gestimmt hat, ist Alia Millar, 21 Jahre alt, Studentin, eine kleine, freundliche Person, auf Shoppingtour in der Stadt mit ihrer Schwester Ciona, die 20 ist. Alia sagt, die EU sei gut für das Land, die Gesetze garantierten Sicherheit, die Gesundheitsstandards seien wichtig für alle; für die ökonomische Ent- wicklung des Landes sei es wichtig, in der EU zu bleiben. Alia glaubt, dass viele Menschen, die für den Brexit waren, nicht wirklich informiert abstimmen konnten, «die wussten nicht, wofür sie stimmen», sagt sie, «auch, weil alles so kompliziert ist».
Ciona, ihre Schwester, hat gar nicht abgestimmt, die Bürde, einmal an die Urne zu gehen und gleich über die Zukunft eines ganzen Landes mitzuentscheiden, habe sie gelähmt. «Jetzt bin ich besorgt um die Konsequenzen. Was mit meiner beruflichen Zukunft sein wird. Mit meinem Leben.»
Es gibt einen tiefen Graben in der englischen Stadt
Während Ciona die Stadt verlassen will, weil sie findet, Boston sei ein Drecksloch, ein toter Ort, depressiv, möchte Alia in der Nähe bleiben. «Ich bin hier aufgewachsen, ich mag diesen Ort, und ich glaube, er ist mit einem Stigma behaftet. Viele Menschen sind in ihrem Kopf negativ eingestellt, sehen keine Hoffnung, versuchen nicht, aufeinander zuzugehen. Beide Seiten. Die osteuropäische und die englische.»
Diese Trennung ist sichtbar. Da ist der alte Teil, der Marktplatz, die Brücke, die zwei, drei, vier englischen Pubs, in denen man, abgesehen von englischen Familien und einigen Trinkern und Männern an Slotmaschinen, kaum je ein ausländisches Gesicht sieht oder eine andere Sprache hört; und da ist die West Street auf der anderen Seite des Flusses, wo sich Grau in Grau mit dem Himmel im März ein osteuropäisches Lebensmittelgeschäft ans andere reiht, indische Restaurants, thailändische Küche, brasilianische Bar, französisches Café.
Die einen sagen, der Osten habe die Stadt gekapert, man fühle sich fremd im eigenen Land. Und die anderen sagen, vor ein paar Jahren war dieser Teil der Stadt tot, die Hälfte der Geschäfte an der West Street musste dichtmachen, weil sie wirtschaftlich nicht liefen, jetzt kommt neues Leben hierher.
Doch die Einheimischen gehen nicht wirklich oft in die West Street; überhaupt gehen einige nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf die Strasse, aus Angst. Gruppen plündern Lebensmittelgeschäfte, Messerattacken und Prügeleien unter Zugewanderten und Einheimischen. Die Mordrate der kleinen Stadt lag 2016 bei 15 Toten pro 100 000 Einwohner – landesweiter Spitzenwert. Boston ist nicht nur die Hauptstadt des Brexit, sie ist auch die Hauptstadt der Morde. Gefährlicher als London, je nachdem, wie man die Zahlen liest. Die lauten, pöbelnden, gewaltbereiten Menschen sind oft jung, sie sind in der Regel männlich, und sie sind in der Regel in der Gruppe – wie überall.
Catia Vieira, 22, Bartender im Folly Pub, hat ein Jahr lang Avocados kontrolliert, jeden Tag, auf Druckstellen, auf ihre Farbe hin, wie lange man sie im Kühlschrank lagern kann. Seit zwei Jahren arbeitet sie im Pub, ursprünglich aus Portugal, seit 15 Jahren lebt sie in Boston. «Jeder, der sich beklagt, er finde keinen Job, könnte sofort in die Fabrik und würde am gleichen Tag eingestellt», sagt sie. «Aber viele hocken lieber daheim und geben den Ausländern die Schuld. Wir kommen hierher, weil wir eine bessere Zukunft sehen. Warum gestalten die Engländer ihren eigenen Ort nicht positiv mit?»
2016, nach dem Brexit-Votum, hatten sich kurzzeitig Initiativen gebildet, die den Dialog zwischen Einheimischen und Zugewanderten fördern sollten, «Boston in common» beispielsweise, Dialog statt wütender Faust im Sack. Aber das kurze Fenster der Offenheit währte nicht lange. Während die Einheimischen, die im englischen Pub schon morgens ihre Bierchen trinken, sich sicher sind, dass diese Zugewanderten ihr Leben schlechter machen, sagen die anderen, diese Jobs würde kein Engländer noch machen wollen, sich Stunden über den Feldern bücken, Schweiss und Tränen, für einen mickrigen Lohn, bei Kälte, auf Abruf.
Der Migrant, der auf eine schöne Nach-Brexit-Zeit hofft
Eine Studie des Migration Advisory Committee hat gezeigt, dass EU-Einwanderer England 4,7 Milliarden Pfund mehr Steuereinnahmen bringen, als sie Leistungen vom Staat empfangen. Die Arbeitslosenquote in Boston liegt bei 1,5 Prozent, so tief wie lange nicht mehr. Boston ist auch dank der Zuwanderung eine der erfolgreichsten Agrarregionen Grossbritanniens, jede zehnte Person in der Grafschaft Lincolnshire ist im Agrarsektor angestellt, die Region hat mit die grössten Agrarflächen des Landes.
Auch deshalb holen die Firmen im Hinblick auf den Muttertag im Mai 300 zusätzliche Arbeitskräfte aus dem Osten, für die globalisierte Massenproduktion von Blumen, und lassen sie dann wieder gehen; und die Politiker in Boston müssen sich dann überlegen, wie sie eine Gesellschaft in der Balance halten. «Geben Sie uns fünf Jahre, fünf Jahre nur», sagt Michael Cooper, «das würde reichen, um mehr Häuser und Schulen zu bauen.»
Für Anton Dani liegt die schöne Zukunft in einer Zeit nach dem Brexit. Der 53-jährige Politiker und Inhaber eines Cafés hat Jahre in London gelebt, sein Vater stammt aus Marokko, «deshalb kann ich als Migrant das sagen, was sich Engländer nicht trauen». Der Brexit sei für ihn wie ein «refresh button», den Knopf drücken und nochmals neu anfangen, so zumindest die Idee.
Seine Frau habe auch für den Brexit gestimmt, für die Zukunft ihrer beiden Söhne, «doch nun würde sie wohl fürs Bleiben stimmen, wenn es ein Referendum gäbe». Ihr geht es wie vielen anderen, nach zwei Jahren Hin und Her und viel Ungewissheit: Lieber zurück als im Chaos des Ungewissen stecken bleiben. Für Dani ist Boston wunderschön, sicher und ein perfekter Ort, um seine Kinder grosszuziehen, «wir sind extra aus London hierher gezogen, wir glauben an diesen Ort».
Wie geht es mit dem Brexit weiter?
Am 23. Juni 2016 stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Seit diesem Zeitpunkt fand zwischen der EU und Grossbritannien aber auch innerhalb des Vereinigten Königreichs ein langwieriger politischer Prozess der Kompromissfindung statt. Mehrere Abgeordnete und sogar Premierminister traten aufgrund der Vertragsverhandlungen zurück. Am 31. Januar 2020 trat Grossbritannien schliesslich aus der EU aus.
BLICK zeigt die wichtigsten Stationen des chaotischen Prozesses seit dem Austrittsvotum der Briten auf.
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