«Unsere Stadt ist seit dem ersten Tag besetzt»
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Yulia Mykhaylova (36):«Unsere Stadt ist seit dem ersten Tag besetzt»

Yulia Mykhaylova (36)
«Man muss seine Fotos und Chats am Checkpoint zeigen»

Yulia Mykhaylova (36) lebte fast ein halbes Jahr lang im besetzten Nowa Kachowka in der südukrainischen Region Cherson. Jetzt ist sie geflohen – und stolzer auf ihr Land als je zuvor.
Publiziert: 24.08.2022 um 10:00 Uhr
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Aktualisiert: 24.08.2022 um 10:30 Uhr
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Yulia Mykhaylova (36) lebte fast ein halbes Jahr lang im besetzten Nowa Kachowka in der südukrainischen Region Cherson.
Foto: ZVG
Olha Petriv

Meine Heimatstadt ist seit dem ersten Tag des Kriegs besetzt. Doch ich habe mich bei mir zu Hause nicht mehr wie zu Hause gefühlt. Wir haben seit der Ankunft der Besatzer versucht, das Haus so lange wie möglich nicht zu verlassen. Wenn ich das Fenster öffnete, dann hörte ich die Geräusche der Militärfahrzeuge, die gekommen sind, um meine Leute umzubringen.

In diesem Gebiet ist man in allem eingeschränkt. Man kann keine Medikamente mehr kaufen, und auch die Regale in vielen Läden blieben lange leer, weil die ukrainische Seite keine Waren mehr liefern konnte. Jetzt sind die Läden zwar wieder voll mit Waren von der Krim. Aber die Preise sind drei- bis viermal so hoch wie zuvor – und die Qualität ist schlecht. Zudem funktionieren ukrainische Bankkarten nicht mehr. Und auch die Mobilfunkverbindung ist ständig unterbrochen.

Leben zerstört

Die russischen Besatzer haben überall ihre Fahnen aufgehängt, sie haben unsere Symbole zerschlagen. Die Leute aber zeigen im Verborgenen immer noch die ukrainische Flagge.

Die Menschen in der Gegend rund um Cherson hatten kein schlechtes Leben. Doch dann kamen die Russen und haben ihr Leben einfach zerstört. Deshalb mussten meine elfjährige Tochter und ich unsere Heimat vor einem Monat verlassen.

An den militärischen Checkpoints auf dem Weg raus aus der Gegend muss man alle Textnachrichten, alle Chats, Fotos und Apps auf seinem Handy vorzeigen. Man muss sehr vorsichtig sein. Man weiss nie, was passiert, wenn die Soldaten etwas finden, das ihnen nicht passt.

Identifikation mit dem Land stärker denn je

Wir haben es erst nach sechs Tagen in einer langen Autoschlange geschafft, in das von der ukrainischen Regierung kontrollierte Gebiet zu gelangen. All diese Nächte verbrachten wir auf Feldern. Es war schrecklich heiss, die Bedingungen unhygienisch, es gab keine Toiletten.

Jetzt sind wir in der Region Odessa und relativ sicher. Natürlich heulen auch hier die Sirenen. Und manchmal hören wir, dass irgendwo in der Nähe Luftangriffe stattfinden. Aber allein die Tatsache, dass wir die Invasoren nicht sehen, ist für uns eine grosse Erleichterung.

Mit diesem Krieg haben die Russen eigentlich nur eines erreicht: Wir identifizieren uns jetzt nicht nur mehr als Ukrainer, wir sind jetzt richtig stolz darauf. Deshalb werden wir auch den Unabhängigkeitstag ausgiebig feiern.

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