Der Krieg hält an. Es ist kein Ende in Sicht. Täglich fallen Soldaten an der Ostfront. Raketen hageln auf Wohngebiete. Menschen werden zu Grabe getragen. Jeden Tag. Elf Monate nach Beginn Wladimir Putins (70) militärischer Invasion in die Ukraine scheint der Frieden so fern wie nie. Die Eskalationsspirale dreht sich unaufhaltsam weiter. Der Stellungskrieg an der Ostfront ist festgefahren. Russland droht mit einer weiteren Grossoffensive im Frühjahr. Neue schwere Waffen müssen her, sonst droht die ukrainische Verteidigung zu kollabieren.
Das alles wiegt schwer auf den Schultern des ukrainischen Präsidenten. Am 25. Januar 2023 wird Wolodimir Selenski 45 Jahre alt. Zum Feiern wird dem ehemaligen Schauspieler und Komiker kaum zumute sein. Ob Selenski den Tag in der offiziellen Präsidentenresidenz an der Lutherischen Strasse in der Kiewer Innenstadt verbringt, ist nicht bekannt. Der Name der Jugendstilvilla jedenfalls passt zur bedrückenden Stimmung: «Das Haus der weinenden Witwe».
Geschenk des Westens kommt zur rechten Zeit
Nichts würde den obersten Befehlshaber an seinem Geburtstag wohl mehr aufbauen als ein bestimmtes Geschenk vom Westen. Selenski will Kampfpanzer! 300 Stück bräuchte seine Armee. Ganz oben auf der Wunschliste steht der deutsche Leopard 2. Das Geschenk kommt möglicherweise rechtzeitig. US-Medien zufolge wollen die USA nun doch amerikanische Kampfpanzer des Typs Abrams an die Ukraine liefern. Und wie der Spiegel berichtet, liefert Deutschland mindestens eine Kompanie Leopard 2A6. Polen wartet auf grünes Licht für seine Leoparden. Und Grossbritannien liefert 14 seiner Challenger-2-Kampfpanzer.
Noch vor einem Jahr sah der Geburtstag anders aus. Wolodimir Selenski lebte mit seiner Familie unter einem Dach. Als russische Truppen am 24. Februar 2022 die Ukraine angriffen, liess der Präsident seine Ehefrau Olena (44), Tochter Oleksandra (18) und Sohn Kyrylo (9) an einen geheimen Ort bringen.
Fortan wird der Präsident von Militär eskortiert, verbringt die meiste Zeit im Bunker. Er trägt keine dunklen Anzüge mehr, lässt sich einen Bart wachsen. Täglich zeigt er sich im Netz im olivgrünen T-Shirt, das sich über neu antrainierte Bizeps spannt. Das Lächeln verschwindet. Aus den Augen ist jeder Schalk gewichen. Der Blick ist fokussiert und entschlossen. Seine Worte sind keine Bonmots mehr. Es sind tägliche Durchhalteparolen an Armee und Bevölkerung sowie Appelle an die Welt.
Vom Komiker zum Kriegshelden
Im Laufe der Kriegsmonate wandelt sich der nur 1,70 Meter grosse Ex-Schauspieler zum Helden und zum begnadeten Kriegsrhetoriker, wie der Tübinger Professor Joachim Knape gegenüber deutschen Medien bilanziert. «Selenski ist reifer, konzentrierter, ernster geworden», sagt der Rhetorik-Experte, «es hat eine Militarisierung seiner Erscheinung stattgefunden. Das flösst dem Volk Vertrauen ein.»
Das alte Leben des Sohns eines jüdischen Mathematikprofessors und einer Ingenieurin scheint wie aus einer anderen Zeit. Wolodimir Selenski wird am 25. Januar 1978 im Süden der Ukraine geboren, damals noch russischsprachiges Sowjetgebiet. Er studiert Jura, sucht aber die Bühne. Selenski wird Komiker und Kabarettist. Er tritt in ukrainischen sowie russischen TV-Shows auf – Neujahr 2013 sogar mit Putin-Propagandist Wladimir Solowjow (59). Der grosse Durchbruch gelingt Selenski mit der satirischen Serie «Diener des Volkes». Er spielt darin einen Lehrer, der zum Präsidenten des Landes gewählt wird. Später wird er seine Partei danach nennen. Und wie im Film kandidiert der Komiker für die Präsidentschaft und gewinnt 2019 tatsächlich auch die Wahlen.