Wladimir Putin (72) befindet sich im Aufwind. Im Osten der Ukraine machen seine Truppen in den vergangenen Wochen laufend Geländegewinne. Zudem zeigen schwere Bomben und Raketen gegen ukrainische Energieinfrastruktur ihre Wirkung. Gleichzeitig bekommt die Ukraine vom Westen die Erlaubnis, immer zerstörerische Waffen gegen die russischen Invasoren einzusetzen.
Die Warnungen vor einem Dritten Weltkrieg werden immer eindringlicher. So spricht jetzt auch Bruno Kahl (62), Präsident des deutschen Bundesnachrichtendienstes, an einer Veranstaltung davon, dass der russische Präsident schon bald in der Lage sei, Nato-Staaten anzugreifen. Wie würde die Reaktion ausfallen?
Laut Kahl will Putin zuerst die Stabilität der Nato testen. Kahl rechnet daher anfangs nicht mit grossflächigen Angriffen. Als mögliches Szenario nannte er einen kurzen Angriff auf die norwegische, von vielen Russen bewohnte Arktisinsel Spitzbergen.
Schon bald bereit
Ein anderes mögliches Szenario wäre laut Kahl eine begrenzte Intervention in den baltischen Staaten Estland, Lettland oder Litauen unter dem Vorwand, die da lebenden, starken russischen Minderheiten zu schützen. Der litauische Aussenminister Gabrielius Landsbergis (42) sagte: «Wenn die Ukraine fällt, ist jedem klar, dass wir die nächsten sind. Putin hört nicht auf. Er kann nicht aufhören.» Schon bei der Besetzung des ukrainischen Donbass 2014 hatte Putin als Grund angegeben, die dort lebenden Russen retten zu wollen.
Ein möglicher Angriff auf die Nato würde nicht morgen stattfinden, sondern dann, wenn Russland mit seiner Kriegswirtschaft den Verlust an Waffen aus dem Ukraine-Krieg wieder wettgemacht hat. Laut Kahl könnte das ab Ende des Jahrzehnts der Fall sein.
Die Frage ist: Wie viel ist der Nato die Verteidigung einer Eis-Insel mit Forschungsstation wert, wie viel die Verteidigung einer Region eines kleinen Staates am geografischen Rande des Bündnisses? Dazu sagt Liviu Horovitz (41), Nato-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik Berlin, gegenüber Blick: «Die Nato würde jeden Quadratmeter ihres Gebietes verteidigen.» Denn, wenn sie es zuliesse, dass sogenannt weniger wichtige Gebiete angegriffen werden, wäre es um ihre Glaubwürdigkeit geschehen. «Damit spekuliert Putin natürlich», meint Horovitz.
Gefahr von Kreml-freundlichen Staaten und Parteien
Durch die Bedrohung Russlands und die neuen Mitglieder Finnland und Schweden ist die Nato zwar stärker geworden und ist der Kreml-Armee überlegen. Doch sind die politischen Entwicklungen in einzelnen Mitgliedstaaten ein Grund zur Sorge. So rücken Ungarn und die Türkei immer näher an den Kreml. Zudem hat es in Rumänien ein russlandfreundlicher Kandidat in die Stichwahl ums Amt des Staatspräsidenten geschafft.
In Europa haben Kreml-freundliche Parteien wie die AfD in Deutschland, die FPÖ in Österreich und Marine Le Pens (56) Rassemblement National in Frankreich massiven Aufwind. Das nicht zuletzt wegen Leuten, die auch unsere sozialen Medien beherrschen und Propaganda streuen.
Kahl erklärt den Zusammenhang in einem Interview mit der ARD: «Das Ziel ist das Verächtlichmachen derer, die in der Mitte unserer Gesellschaft Verantwortung tragen und das Stärken derer, die am Rande tätig sind, insbesondere solche, die auf Putins Propaganda hereinfallen und verlängerte Arme seiner Meinungsbildung hier in Deutschland sind.»
Lässt Trump Europa fallen?
Horovitz: «Es ist politisch besorgniserregend, wie der Kreml einzelne Staaten in seine Richtung ziehen will.» Auch wenn für Länder wie Ungarn und die Türkei ein Nato-Austritt «extrem unwahrscheinlich» sei, könne dieser Tanz auf zwei Hochzeiten für die Nato ein Risiko darstellen. Stichwort: Informationen über militärische Anlagen und Strategien, die in die falschen Hände gelangen könnten.
Was bleibt zu tun? Horovitz glaubt nicht, dass der neue US-Präsident Donald Trump (78), wie auch schon angedroht, die Nato verlassen und Europa im Stich lassen würde. «Die Amerikaner haben ein eigenes Interesse daran, nur schon wegen der Bedrohung durch China sowie der ökonomischen Beziehungen.» Dennoch müsse Europa eine eigene Verteidigung aufbauen. Horovitz: «Je mehr wir selber können, desto weniger machen wir uns erpressbar.»