Tausende Menschen gingen am Montag erneut auf die Strassen in der Hauptstadt Sofia sowie in Warna und Burgas am Schwarzen Meer, in der Donaustadt Russe und in Plowdiw im Süden. In Sofia wurden der zentrale Boulevard «Zar Oswoboditel», weitere Hauptstrassen, Kreuzungen sowie vorübergehend auch U-Bahnzüge blockiert. Dort debattierten am Montag die Abgeordneten über einen Misstrauensantrag gegen die bürgerlich-nationalistische Regierung von Ministerpräsident Boiko Borissow (GERB), dem die Opposition Korruption und Machtmissbrauch vorwirft. «Rücktritt, Rücktritt!» und «Mafia» riefen die Demonstranten.
Vorwurf von Korruption
Die Regierung rechnet damit, dass der Misstrauensantrag bei der Abstimmung an diesem Dienstag abgelehnt wird. Der Antrag gegen die seit Mai 2017 amtierende Regierung wurde von den oppositionellen Sozialisten (Ex-KP) eingebracht. Diese begründen ihren Vorstoss mit dem Verdacht auf Korruption und unzureichender Korruptionsbekämpfung.
Sozialisten-Chefin Kornelia Ninowa zählte zwei Dutzend Korruptionaskandale allein während der Amtszeit der jetzigen, dritten Regierung unter Borissow auf. Er ist mit kurzen Unterbrechungen Bulgariens Ministerpräsident seit 2009.
In der Debatte im Parlament räumte Vizeregierungschef Tomislaw Dontschew andauernde Probleme mit der Korruption ein. «Die Korruption ist eine chronische Erkrankung der bulgarischen Gesellschaft und des Staates», sagte er in Anspielung auf Regierungen, die von anderen Parteien formiert wurden. Transparency International zufolge war Bulgarien auch 2019 das korrupteste Land in der Europäischen Union.
«Die europäischen Gelder werden nicht bei den bulgarischen Bürgern ankommen, solange die Regierung von Borissow regiert», warnte Sozialisten-Chefin Kornelia Ninowa. Borissow nimmt seit Freitag an dem EU-Sondergipfel über das Paket zur Bewältigung der Corona-Krise in Brüssel teil.
Volk ist verärgert
«Dies ist kein Staat, sondern ein Schweinestall», sagte eine aufgebrachte Frau mittleren Alters dem Staatsfernsehen. Die einzige zentrale Forderung der seit 9. Juli laufenden Strassenproteste ist der Rücktritt der Regierung und des Generalstaatsanwalts. Darüber hinaus hat wohl jeder Teilnehmer seinen eigenen Grund, zu protestieren - vom «ineffizienten Justizsystem» über die «permanente Umweltverschmutzung» bis hin zur «miserablen Instandhaltung und Renovierung» von Strassen und Autobahnen.
Unbeachtet bleiben positive Entwicklungen wie etwa die Aufnahme Bulgariens am 10. Juli in den EU-Wechselmechanismus II, der als das «Wartezimmer» für den Euro gilt. Kein Lob gibt es auch für die Finanzdisziplin des ärmsten EU-Staates.
Auch Junge protestieren
Proteste haben in Bulgarien nach dem Fall des Kommunismus eine beträchtliche Tradition mit Höhepunkten 1989-90 und 1996-97 sowie 2013-14, als das Land bereits EU-Mitglied war. Aktuell protestieren auch viele junge Menschen, die allerdings politische und keine sozialen Forderungen haben. Einige von ihnen studieren in Westeuropa, sind aber wegen der Corona-Krise in die Heimat zurückgekehrt. Nun fallen ihnen mehr Missstände auf als vor dem Studium.
Polizei wendet Gewalt an
Ein aus Den Haag heimgekehrter Jura-Student berichtet, er sei schon am zweiten Protestabend Opfer von Polizeigewalt geworden. «Ein Uniformierter gab mir mehrere Schläge auf das Kinn. Es waren starke Schläge. (...) Als die Schläge weitergingen, verlor ich das Bewusstsein», sagte er dem privaten Fernsehsender bTV.
Der Vorfall, von dem es eine Videoaufzeichnung gibt, wird von den Behörden überprüft. Die beteiligten Polizisten sollen, wie es hiess, nicht mehr bei Protesten eingesetzt werden. Der Fall überschattet die meist friedlichen Proteste. Die wenigen Ausschreitungen führt die Polizei auf Provokateure zurück.
Bis zum Sieg
Die Demonstranten sind fest entschlossen, ihre Proteste auch nach einem Scheitern des Misstrauensantrags fortzusetzen. «Wir bleiben hier bis zum Sieg», sagten zwei Protestteilnehmer am Parlament. Der Politologe Dimitar Awramow warnt davor, das «enorme Potenzial des Protests» zu unterschätzen: «Niemand kann sich gegen das eigene Volk stellen», sagte er dem Staatsfernsehen.
Die Demonstrationen werden von Staatschef Radew unterstützt. Die Teilnehmer fordern auch den Rücktritt des Generalstaatsanwalts - wegen Durchsuchungen der Arbeitsräume von zwei hochgestellten Mitarbeitern des Präsidialamtes. Dem einen wird Einflusshandel, dem anderen Anstiftung zum Amtsmissbrauch vorgeworfen. (SDA)