Auf einen Blick
Nordkoreanische Truppen kämpfen Seite an Seite mit Russland, die Ukraine dringt mit US-Raketen tief in russisches Territorium ein, und der Kreml verschärft erneut seine Atom-Rhetorik: Im Ukraine-Krieg stehen seit einer Woche alle Zeichen auf Eskalation. Kremlchef Wladimir Putin (72) warnte am Donnerstag: «Der regionale Konflikt in der Ukraine hat einen globalen Charakter angenommen.» Die Angst davor, dass dieser Krieg ausser Kontrolle geraten könnte, steigt. Doch ausgerechnet diese Eskalation könnte den Anfang vom Ende symbolisieren.
Vor einer Woche – am 1000. Kriegstag – erlaubte der scheidende US-Präsident Joe Biden (82) der Ukraine den Einsatz amerikanischer ATACMS-Langstreckenraketen auf russischem Territorium. Kurz darauf setzte die Ukraine die Raketen bereits für Angriffe auf die russische Region Brjansk ein. Es ist das erste Mal, dass US-Waffen eingesetzt werden, um Russland anzugreifen – ein bedeutender Schritt hin zu einem direkten Konflikt zwischen den beiden Grossmächten.
Putin reagierte postwendend und kündigte eine – wenn auch schon länger geplante – Anpassung der russischen Nukleardoktrin an: Neu soll Russland Atomwaffen auch gegen «nicht nukleare Staaten» einsetzen dürfen, wenn diese russisches Territorium angreifen. Darunter würde auch die Ukraine fallen. Ausserdem betonte Putin mehrmals, dass der Einsatz amerikanischer Waffen auf russischem Boden als direkter Angriff der Nato auf Russland gewertet würde. Immer wieder sprach der Kremlchef von «roten Linien», die der Westen und die Ukraine nicht überschreiten dürften. Sowohl Russland als auch der Westen bemühten sich bisher, eine direkte Konfrontation zu vermeiden, die möglicherweise zu einem Atomkrieg führen könnte.
Mitte Woche feuerte Russland dann eine atomfähige Mittelstreckenrakete auf die Ukraine. Obwohl die Rakete konventionelle Sprengköpfe trug, signalisierte ihr Einsatz, dass Russland bei Bedarf auch mit Atomwaffen zuschlagen könnte – und würde. War der Einsatz amerikanischer Raketen in Russland also die eine «rote Linie» zu viel? Davor fürchten sich auch einige westliche Staatsoberhäupter, wie der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (66): «Wie gefährlich dieser Krieg ist, sehen alle an der jüngsten Eskalation», sagte er am Freitag. Wieso riskieren westliche Unterstützer der Ukraine also ausgerechnet jetzt eine Eskalation? Jetzt, wo die USA kurz vor dem Machtwechsel stehen und es auf dem Schlachtfeld eher schlecht für die Ukraine aussieht?
Die Ukraine braucht gute Karten
Genau deswegen, könnte man argumentieren. Christopher S. Chivvis ist Direktor des Carnegie Endowment's American Statecraft Program und Kolumnist beim britischen «Guardian», wo er schreibt: «Im Interesse der USA, Europas und der Welt ist es an der Zeit, ernsthafte Schritte zu unternehmen, um den Krieg zu beenden.»
Einerseits erhält die Ukraine jetzt mehr Schlagkraft, kann wichtige Munitions- und Öldepots tief im Innern Russlands zerschlagen. Heisst: Die russische Armee ist nun auf eigenem Territorium weniger sicher. Bidens Entscheidung, der Ukraine zu erlauben, Russland mit Kurzstreckenraketen anzugreifen, hat dazu geführt, dass Frankreich und Grossbritannien ebenfalls den Einsatz solcher Raketen gegen Ziele auf russischem Territorium erlaubt haben.
Andererseits scheint Biden vor seinem Amtsabgang der Ukraine so viel Unterstützung wie möglich zu geben. Seine Entscheidung, die Beschränkungen für die ATACMS aufzuheben, gibt dem kommenden Präsidenten Donald Trump (78) eine nützliche Karte in die Hand, die den Kreml ermutigen sollte, eher früher als später den diplomatischen Weg einzuschlagen. Je mehr Trümpfe die neue US-Regierung in der Hand hat, um Russland einen Waffenstillstand zu entlocken, desto wahrscheinlicher ist es, dass Trump damit Erfolg haben wird.