Darum gehts
Thilo Sarrazin. Der Name ist für viele Deutsche ein rotes Tuch. Schonungslos zeigt er auf die wunden Punkte der deutschen Politik. Mit dem Buch «Deutschland schafft sich ab» hat er 2010 einen Bestseller gelandet.
Sarrazin, den die SPD vor fünf Jahren ausgeschlossen hat, wundert sich nicht über die jüngsten Umfrageergebnisse zur deutschen Regierung. Diese zeigen, dass drei Viertel der Deutschen das Vertrauen in den Staat verloren haben. Im Interview mit Blick sagt Sarrazin, was die Schweiz besser macht und wie man jetzt mit der AfD umgehen muss.
Blick: Herr Sarrazin, das Vertrauen in die deutsche Regierung sackt massiv ab. Sind auch Sie von der Ampel-Nachfolgerin enttäuscht?
Thilo Sarrazin: Ja. Ich habe erwartet, dass man endlich in die Reform des Sozialstaates einsteigt, die schon Merz’ Vorgänger verpasst oder – wie Angela Merkel – sogar vermieden haben. Wenn wir uns mit der Schweiz vergleichen, sehen wir, welche gewaltigen Fehler wir in Deutschland machen und dass wir auf die sozialpolitische Zukunft keine richtigen Antworten haben, ausser mehr Abgaben und Steuern. Das lähmt die deutsche Wirtschaft.
Wie lange hält es Kanzler Friedrich Merz noch durch?
Das kann ich nicht sagen. Er ist für vier Jahre gewählt, und ich denke, dass sowohl Union als auch SPD die Absicht haben, diese Zeit auszufüllen.
Warum ist die AfD derart im Aufwind?
Wie überall im Leben wird derjenige gehört, der Probleme anspricht, auch wenn er vielleicht unsympathisch ist oder falsche Lösungen hat. Jene, die die Probleme gar nicht ansprechen, liefern sich denen aus, die sie vielleicht auf die falsche Weise ansprechen.
In Sachsen-Anhalt liegt die Rechtspartei gemäss Umfragen sogar bei 39 Prozent.
Wachsendes Staatsmisstrauen spielt jenen in die Hände, die man als nicht dem Establishment zugehörig empfindet. Diese Tendenz ist vor allem im Osten Deutschlands zu beobachten. Ein CDU-Mitglied sagte mir, dass zum Volksfest der AfD 3000 Leute kommen und 20, wenn die CDU einlädt.
In Köln haben die Parteien – ausser der AfD – beschlossen, nur noch positiv über die Migration zu reden. Was halten Sie davon?
Diese rheinische Lösung ist schon fast wieder witzig. Das Thema Migration spielt überall hinein: in die Wohnungsnot, in die Kriminalität, in die Finanzen, in die Bildung. Wer das Thema Migration und deren unerwünschte Folgen grundsätzlich ausklammert, will eigentlich gar kein Problem mehr lösen.
Was heisst das für die anderen Parteien? Wie müssen sie reagieren?
Sie müssen eine Antwort darauf finden, wie man den Sozialstaat wieder zukunftsfähig macht. Dazu gehören unter anderem die Kontrolle über die Grenzen sowie inhaltliche Antworten auf die Zukunft des Sozialstaates und auf die stets steigenden Kosten. Auch braucht es die Erkenntnis darüber, dass 50 Prozent der Bürgergeldempfänger Ausländer sind und von diesen ein grosser Teil noch nie im Leben gearbeitet hat.
Thilo Sarrazin (80) ist einer der umstrittensten Autoren und Intellektuellen Deutschlands. Seine Thesen zu Migrations- und Finanzpolitik sorgen für hitzige Debatten. Sarrazin erarbeitete 1989/90 im Bundesfinanzministerium das Konzept für die deutsche Währungsunion. Er war Staatssekretär im Finanzministerium von Rheinland-Pfalz, Vorstandsmitglied bei der DB Netz AG und Senator für Finanzen in Berlin. Bis 2010 war er im Vorstand der Bundesbank.
Wegen seines provokativen Buches «Deutschland schafft sich ab», das im selben Jahr zum Bestseller wurde und zu dem er 2025 eine Bilanz veröffentlicht hat, verlor er diesen Job. 2020 hat ihn die SPD ausgeschlossen. Als Begründung wurde angeführt, dass seine publizierten Vorschläge zur Begrenzung der Einwanderung sozialdemokratischen Grundwerten widersprächen.
Sarrazin ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Weitere Bücher: «Feindliche Übernahme», «Der neue Tugendterror», «Deutschland auf der schiefen Bahn».
Thilo Sarrazin (80) ist einer der umstrittensten Autoren und Intellektuellen Deutschlands. Seine Thesen zu Migrations- und Finanzpolitik sorgen für hitzige Debatten. Sarrazin erarbeitete 1989/90 im Bundesfinanzministerium das Konzept für die deutsche Währungsunion. Er war Staatssekretär im Finanzministerium von Rheinland-Pfalz, Vorstandsmitglied bei der DB Netz AG und Senator für Finanzen in Berlin. Bis 2010 war er im Vorstand der Bundesbank.
Wegen seines provokativen Buches «Deutschland schafft sich ab», das im selben Jahr zum Bestseller wurde und zu dem er 2025 eine Bilanz veröffentlicht hat, verlor er diesen Job. 2020 hat ihn die SPD ausgeschlossen. Als Begründung wurde angeführt, dass seine publizierten Vorschläge zur Begrenzung der Einwanderung sozialdemokratischen Grundwerten widersprächen.
Sarrazin ist verheiratet und Vater zweier Söhne. Weitere Bücher: «Feindliche Übernahme», «Der neue Tugendterror», «Deutschland auf der schiefen Bahn».
Ist es an der Zeit, die Brandmauer gegen die AfD aufzuheben und die sehr erfolgreiche Rechtspartei ins Boot zu holen?
Ich verfolge auch die Politik in der Schweiz. Viele Leute lehnen zwar die SVP ab, aber niemand würde sie hinter einer Brandmauer isolieren. Das ist sicherlich vernünftig, weil man die gegen 30 Prozent SVP-Wähler ja nicht aus der politischen Willensbildung ausschliessen kann. Als ich von 2002 bis 2009 Finanzsenator von Berlin war, gab es eine Brandmauer gegen links, die eingerissen wurde. Das verschaffte der SPD in Berlin mehr Luft und tat dem Land in der Summe gut.
Das heisst, dass die CDU und CSU nur dann erfolgreicher werden können, wenn die Brandmauer fällt?
Die Union hat sich innerparteilich ausgeliefert. Die drei linken Parteien SPD, die Linken und die Grünen liegen zusammen stabil bei 37 Prozent. Das heisst: Diesseits der Brandmauer sind die Konservativen mit gegen 29 Prozent immer in der strukturellen Minderheit. Wenn sie aus Prinzip die Zusammenarbeit mit der AfD ausschliessen, liefern sie sich den linken Kräften aus. Genau das beobachten wir zurzeit bei der Bundesregierung. Egal, ob die Leute Merz oder Söder wählen, sie bekommen immer sozialdemokratische, linke oder grüne Politik.
Wie kann man die AfD in die Verantwortung einbeziehen? Wie muss man mit ihr umgehen?
Es reicht schon mal, wenn man sie wie eine normale Partei behandelt. Das heisst, dass man auf überflüssige Beschimpfungen verzichtet und sie nach den üblichen Regularien am Vorsitz von Ausschüssen beteiligt. Solange man die AfD-Parlamentarier im Lift nicht begrüsst, werden diese keineswegs weniger bockig oder radikal.
Wie kann man die rechtsextremen Elemente, die es in der Partei gibt, unter Kontrolle halten?
Man muss immer den Einzelfall betrachten. Wer sich rechtsextrem profiliert, kann in keine Regierung eintreten. Zurzeit kann das noch die CDU/CSU als grösste Partei steuern. Sollte sie aber durch den Aufstieg der AfD zum Juniorpartner schrumpfen, wird die Sache wesentlich schwieriger.
Die SPD hat Sie vor fünf Jahren wegen Ihrer Kommentare zur deutschen Politik nach 47 Jahren aus der Partei ausgeschlossen. In welcher Partei sind Sie jetzt?
Ich bin nun 80 Jahre alt, mein Vater starb mit 99. Da werde ich wohl selber noch ein paar Jahre vor mir haben, in denen ich zwar nicht unparteiisch, aber parteilos leben will.
Vor 15 Jahren haben Sie das Buch «Deutschland schafft sich ab» geschrieben. Behaupten Sie das heute immer noch?
Einwanderung, Bildungsverfall, Kriminalität, Islamismus … Die von mir beschriebene Umwandlung Deutschlands bis hin zur Selbstabschaffung geht genauso weiter – nur nochmals deutlich beschleunigt im Verhältnis zu meinen damaligen Analysen.