Von Silvana Degonda
Es riecht nach Borschtsch. Die moldawische Suppe mit Kohl, Kartoffeln und Hühnchen dampft noch, als Eugenia Lupàcescu (88) das Schraubglas öffnet. Ihre Katze Fiica (Rumänisch für Tochter) streckt neugierig die Nase Richtung Essen. Jeden Tag bringt eine Frau aus dem Dorf der Rentnerin ein warmes Essen nach Hause.
«Nur deshalb bin ich so alt geworden», sagt die pensionierte Pöstlerin zu Sarah van Berkel (37). Die ehemalige Eiskunstläuferin und heutige Journalistin der «Schweizer Illustrierten» ist zu Besuch. Als Botschafterin des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) schaut sie sich in Moldawien die Arbeit des Hilfswerks vor Ort an.
Die Suppe bleibt nicht lange warm, draussen sind es minus acht Grad. Die Landschaft scheint wie eingefroren, die Strassen sind leer gefegt. Hier im Dörfchen Corpaci, drei Autostunden nördlich der Hauptstadt Kischinau, werden warme Mahlzeiten mit einer Pferdekutsche an 44 Menschen verteilt – unter ihnen Eugenia Lupàcescu. «Es schmeckt köstlich. Und ich freue mich immer, wenn jemand nach mir schaut», sagt sie.
Die Rentnerin ist eine gesellige Person. Sie erzählt gern von ihren Blumen, die im Frühling blühen. Ihre Tochter schickt dafür Samen aus Kiew. Doch im Winter ist Eugenias einzige Aufheiterung oft die Essenslieferantin. «Ich bin alleine, mein Mann starb vor 20 Jahren.»
Moldawien war einst eine der reichsten Sowjetrepubliken. Heute gilt es als Armenhaus Europas. Das kleine Agrarland zwischen Rumänien und der Ukraine ist geplagt von staatlicher Korruption, maroder Infrastruktur und bitterer Perspektivlosigkeit. Viele junge Menschen flüchten nach Italien zum Putzen, nach Spanien zur Feldarbeit, nach Russland auf den Bau. Zurück bleiben die alten Menschen – jede dritte Person ist über sechzig.
Im Winter weht für sie ein besonders rauer Wind. Viele Seniorinnen und Senioren leben in schlecht isolierten Hütten auf dem Land, ohne Strom, ohne fliessendes Wasser, ohne Hilfe. Mit einer Rente von gerade 100 Franken.
«Unglaublich, mit wie wenig die Menschen hier auskommen müssen Und in welchem Luxus wir daheim doch leben», sagt Sarah van Berkel nach ihrem ersten Tag. «Das berührt mich sehr.»
Das Mittagessen von Eugenia Lupàcescu haben zwei Frauen im Gemeindehaus zubereitet. Fünf Tage pro Woche stehen Carmen Uja (42) und Ina Rusu (42) um acht Uhr in der Suppenküche und kochen für Seniorinnen und Senioren, die sich sonst kein Essen leisten können. Umgerechnet kostet eine Mahlzeit mit Fleisch oder Fisch, einer Suppe und Brot etwa einen Franken – die Portionen reichen für den ganzen Tag.
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Das SRK unterstützt dieses Projekt im Rahmen der Winterhilfe, die durch die Aktion «2 × Weihnachten» finanziert wird. 75 Prozent der Kosten übernimmt das SRK, den Rest die zuständigen Gemeinden. Die Umsetzung vor Ort leistet die lokale Organisation Casmed. Insgesamt gibt es im Norden des Landes 15 solcher Suppenküchen, 570 Menschen profitieren davon.
«Ein warmes Essen kann so viel ausmachen», sagt Sarah van Berkel. Die gebürtige Zürcherin ist seit zehn Jahren SRK-Botschafterin. Obwohl sie jahrelang in Eishallen trainierte, macht ihr die bittere Kälte hier zu schaffen. «Ich bin ein Gfrörli!» Doch der Einsatz ist ihr wichtig. «Ich möchte meine Bekanntheit für etwas Gutes nutzen.»
Seit 2014 unterstützt das SRK dieses Projekt bereits. Zudem bietet es mit Casmed Hauspflege und Hilfe für ältere Menschen an – ähnlich wie die Spitex in der Schweiz. Die Pflegerinnen, die nach den bedürftigen Menschen schauen, holen ihnen oft auch Wasser aus dem Brunnen und heizen die Holzöfen an.
Auch das Moldawische Rote Kreuz ist im Einsatz. In der Kleinstadt Briceni, direkt an der Grenze zur Ukraine, verteilen Freiwillige über 700 Lebensmittelpakete. Sarah van Berkel begleitet Yon (18) und Milina (16). Die beiden Schüler tragen einen Karton bis vor die Tür von Adriana Costas. Die 40-Jährige und ihre sechs Kinder leben seit sieben Jahren in einem kleinen Haus mit zwei Zimmern. Erst seit einem Jahr haben sie ein Badezimmer mit fliessendem Wasser. Der Vater arbeitet in Russland und ist selten da.
Dankbar nimmt die Mutter das Lebensmittelpaket entgegen. Darin sind etwa zwei Kilo Reis, zwei Liter Sonnenblumenöl und zwei Büchsen Schweinefleisch. Der älteste Sohn sagt stolz und laut zu Sarah van Berkel: «My name is Cosmin. I am ten years old.» Er erzählt der ehemaligen Spitzensportlerin, dass er und seine Geschwister gerade im Homeschooling sind – wegen der Pandemie. Für drei schulpflichtige Kinder gibt es nur einen Laptop.
«Bei einer solchen Reise lernt man das wertzuschätzen, was man hat», sagt Sarah van Berkel. Besonders die Begegnung mit Anna Sorocean hat sie tief berührt. Die 89-Jährige lebt allein im Dörfchen Bahrinesti. Ihr schmales Gesicht ist von der Zeit gezeichnet, sie ist blind. Beim Besuch trägt sie eine Basma, ein geblümtes Kopftuch.
Mit gesenktem Haupt erzählt sie von ihren sechs Kindern. Alle sind wegen eines genetischen Defekts gestorben, der alten Frau kommen die Tränen. «Ich weiss nicht, wie man so etwas verkraften kann», sagt Sarah van Berkel – sie selber hat einen Sohn. Tim ist im Januar zwei Jahre alt geworden. Anna Sorocean schaut sie an und sagt: «Bekomme so viele Kinder, wie es geht. Sie sind das Schönste auf der Erde.»
Das warme Essen tröstet sie. «Mir fällt es schwer, mein Mitgefühl in Worte zu fassen», sagt Sarah van Berkel. «Doch Mitleid bringt Anna wenig. Die Arbeit des SRK und unsere Spenden aber bringen etwas. Wir können hier mit ganz wenig ganz viel bewirken.»