Serie: Zurück nach...
Unter Nackten

BLICK-Reporter besuchen diesen Sommer die Ferienorte ihrer Kindheit. In der fünften Folge reist Daniel Meier (36) nach Südfrankreich. Und dorthin, wo er nie war.
Publiziert: 15.08.2008 um 22:27 Uhr
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Aktualisiert: 01.10.2018 um 12:05 Uhr
Von Daniel Meier

Dass es da noch etwas anderes gibt, war mir schon damals klar. Aber ich konnte nicht einfach ohne Eltern für eine Stunde verschwinden. Und noch weniger konnte ich fragen, ob wir mal einen Ausflug machen könnten. Zum FKK-Strand.

Ich war elf. Ein Elfjähriger kann sich für nackte Menschen interessieren. Darüber reden kann er nicht.

Ein Vierteljahrhundert später. Zurück in Cap d’Agde, Südfrankreich. Unsere Feriensiedlung «Port Lano» steht dort wie früher und ist doch verändert. Die Bäume und Sträucher sind gewachsen. Um das Gelände wurde ein hoher Gitterzaun gezogen. Vermietet wird hier nichts mehr. Alles Eigentumswohnungen. Auch unsere Nummer 54.

Erstaunlich, wie genau die Erinnerung stimmt. Oder vielleicht erinnert man sich auch nur an die
Ferienfotos, die man irgendwann wieder angeschaut hat.

Aber nicht beim Modellflieger. Der ist auf keinem einzigen Bild. Und doch sehe ich ihn vor mir. Grüne Flügel, gelber Rumpf, rotes Leitwerk. Ich habe gebettelt, bis die Eltern nachgaben. Man konnte ihn wie einen Drachen an einem Faden steigen lassen. Einmal war der Wind so stark, wir verbuddelten die Spule im Sand, und der Flieger stand stundenlang im Wind.

Damals dachte ich, es wäre ganz leicht: von der Siedlung zum Wasser, dann Richtung Osten, zu den Nackten. Aber es stimmt gar nicht. Die Hafeneinfahrt trennt den Strand. Zum «Village Naturiste» kommt man nur über einen langen Umweg. Und dort steht ein Eingangsportal. Ein Tagespass kostet 5 Euro.

Muss man in der Welt der Nackten nackt sein? Vorgeschrieben ist es nicht. Doch der Druck ist da. Gleich nach der Eingangskontrolle steht ein Schild: «Hier gehen wir nackt … und Sie?»

Zunächst sieht alles normal aus. Leute in Kleidern. Es ist ja auch etwas kühl heute. Aber dann sehe ich ihn. Mit einer Tasche in der Hand läuft er den Hafen entlang. Als ob nichts wäre. Ein alter Mann. Braungebrannt, runzlig am ganzen Leib. Und splitternackt.

Nur nichts anmerken lassen. Nicht starren. Weitergehen.

Dann noch ein Nackter und noch einer. Weiter hinten eine Frau. Mit einem langen T-Shirt und unten nichts.

Bis 40000 FKKler wohnen in Cap d’Agde. Touristen, aber auch solche, die dort leben. Nirgends in Europa sind es mehr. Hier gibt es alles. Und überall kann man ohne Kleider hin. In den Supermarkt, ins Restaurant, in die Bank, die Apotheke. An der Hauptstrasse steht sogar ein Striplokal – für Nackte.

Das muss ja nicht sein. Weiter der Strasse entlang, zum Strand. Noch kaum Menschen da. Zu früh, zu kühl. Das macht es einfacher. Rein ins Meer. Nackt. Wunderbar.

Zurück aus dem Wasser, ziehe ich wieder etwas an. Niemand da, der sich daran stören könnte. Doch gegen Mittag wird es schwieriger. Mit der Sonne kommen die Blüttler. Immer mehr. Ziehen sich aus, legen sich in den Sand. Plötzlich verändert sich die Stimmung. Misstrauische Blicke. Wer jetzt noch eine Badehose trägt, fällt auf.

Also weg damit. Und es funktioniert tatsächlich. Sofort bin ich kein Beobachter mehr, sondern einer von ihnen. Ich bin unsichtbar. Unter Nackten.

Ein Blick über den Strand. Natürlich versucht man, nicht dauernd auf bestimmte Körperstellen zu schauen. Und macht es doch. Ein Reflex.

Abgesehen davon, dass die Leute nichts anhaben – was ist anders? Fast alle sind nahtlos braun bis dunkelbraun. Der Altersschnitt liegt etwas höher als sonst am Strand. Deutlich weniger Kinder. Die Männer sind in der Überzahl. Und: Intimschmuck und Intimrasur sind recht beliebt. Aber vielleicht ist das auch im Tram so. Nur sieht man es dort nicht.

Für mich bleibt es eine eigenartige Welt. Einerseits lebt man hier den Grundgedanken der Freikörperkultur. Also: gemeinsam in der Natur und nackt sein – ohne dabei immer gleich an Sex zu denken. Das klappt erstaunlich schnell. Wer nackt unter Nackten ist, empfindet das bald als normal, natürlich. Und ja, auch befreiend.

Andererseits ist es eben doch eine sexualisierte Welt. Im FKK-Dorf gibt es mehrere Erotik-Shops und auch Clubs mit Sauna und so weiter. Am Strand trifft man neben all den Nackten immer wieder solche, die doch etwas anhaben. Aufreizende Kleidung. Oder das, was sie dafür halten.

Wie nah Nudisten und Swinger beisammen sind, zeigt sich ganz hinten am Nacktstrand von Cap d’Agde. Zu sehen ist zunächst nichts. Doch gleich hinter der Düne sind zwei Nackte in Aktion. Und sofort ist klar, warum dieser Teil Schweinchenstrand genannt wird.

Genug gesehen. Am nächsten Tag mache ich es wie vor 25 Jahren und gehe an den normalen Strand. Entspannt und mit Badehose.

Jetzt erst fällt es mir auf. Hier liessen wir das Modellflugzeug steigen, und hier habe ich das erste Mal das Meer erlebt. Der erste Blick auf einen Horizont, der nichts ist ausser einer Linie zwischen Wasserblau und Himmelblau. Die gekrümmte Linie betrachten und nicht nur wissen, dass die Erde rund ist. Sondern es sehen.

Daran ändert auch ein Tag unter Nackten nichts. Immer wenn ich irgendwo auf der Welt am Meer bin, ist es eine Rückkehr an mein erstes Meer. Das in Cap d’Agde.

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