An der Europameisterschaft macht Russland vor allem wegen seinen Hooligans Schlagzeilen. Bei Krawallen in Marseille fielen sie vor allem durch ihre Brutalität und ihr organisiertes Vorgehen auf. Das ist kein Zufall, ist Boris Reitschuster (45) überzeugt. Der Journalist und Russland-Experte beschreibt in seinem neusten Buch «Putins verdeckter Krieg», mit welchen Methoden der russische Präsident Europa destabilisieren will.
BLICK: Russische Hooligans greifen wie eine Armee an. Wie kommt das?
Boris Reitschuster: Ich glaube, dass der russische Staat seine Finger im Spiel hat. Bei all den Anzeichen dafür ist ein solcher Verdacht nicht an den Haaren herbeigezogen.
Welche Anzeichen?
Das systematische Vorgehen der Schläger. Der Funktionär Lebedev, der sie lobt. Die Verbindungen des rechtsradikalen Fan-Beauftragten Alexander Schprygin zu Präsident Putin. Ausserdem pflegt Putin die «Vertikale der Macht»: Nichts geschieht ohne seinen Segen. Merkwürdig ist auch, dass es bei dem Spiel gestern gegen die Slowakei nicht mehr zu den geringsten Ausschreitungen durch russische Hooligans kam – da war alles wie ausgetauscht, alle waren friedlich, buchstäblich als ob jemand einen Knopf gedrückt hätte.
Das sind doch Verschwörungstheorien!
Es muss ja nicht alles direkt von ganz oben gesteuert sein. Viele denken, entweder kontrolliert eine Regierung die Ereignisse bis ins letzte Detail, oder sie hält sich raus. Doch es gibt eine Grauzone. Und da übt der Staat seinen Einfluss aus. Dies auszuschliessen wäre gefährlich und naiv.
Beweisen kann man es aber nicht.
Nein, und vieles wird man nie beweisen können. Aber etwas können wir mit Sicherheit sagen: Russland hat nichts gegen die Hooligans getan, obwohl das Problem schon lange bekannt ist. Man hätte den Schlägern Reisepässe verweigern oder die westlichen Behörden warnen können – da ist nichts passiert.
Was bringen die Krawalle Putin denn?
Zu Putins Strategie gehört es, im Westen Unruhe zu stiften. In diesem Fall könnte er auch im Hinblick auf die WM in Russland im Jahr 2018 profitieren. Da kann er dann sagen: «Die Westeuropäer haben die Sicherheit nicht im Griff. Hier läuft das viel besser.» Ausserdem leckt Putin immer noch seine Wunden wegen Sotschi.
Wie meinen Sie das?
Die Olympischen Spiele sorgten im Westen für unzählige Negativschlagzeilen – das hat Putin sehr getroffen. Warum sollte er es sich nun entgehen lassen, dem Westen die Feier zu vermiesen? Im Sinne von: Bei euch ist es ja auch nicht besser.
Wer sind denn die russischen Schläger?
Das sind Menschen mit verschiedenen Hintergründen. Viel spricht dafür, dass sich auch ehemalige Mitglieder von Sondereinsatzkommandos darunter befinden. Männer, die Zentren der russischen Kampfsportart Systema ausgebildet wurden. Dort werden in Westeuropa auch «Schläfer» rekrutiert. Systema hat übrigens in der Schweiz begonnen und sich dann ausgebreitet.
Die englischen Hooligans werden als «Mädchen» bezeichnet.
Das ist typisch für das Russland, das Putin vertritt. Eine Kultur, in der primitiv verstandene Männlichkeit und überbetonte physische Stärke und Gewalt einen hohen Stellenwert haben. So herrscht in breiten Kreisen nach den Szenen in Marseille auch das Gefühl vor: Dem verweichlichten, «verschwulten» Westen haben wir es aber gezeigt.
Jetzt droht dem Team der Turnier-Ausschluss.
Dass die UEFA wirklich so weit geht, ist unwahrscheinlich. Aber sogar das könnte Putin in Russland für sich ausschlachten. Er könnte das Weltbild weiter pflegen: Der Rest der Welt ist gegen uns, die Russen.
Dank dieser Sicht kommen die Prügel-«Erfolge» in Russland wohl auch gut an.
In Deutschland und der Schweiz würde man sich für solche Schläger schämen. In Russland werden sie gefeiert – etwa in den sozialen Netzwerken. Und sogar eine grosse Tageszeitung witzelte: Im Gegensatz zu den Fussballern klappe bei den Hooligans der Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung einwandfrei.