Russischer Kursk-Soldat ist sauer auf Putin
«Wir wurden alle angelogen!»

Die ukrainische Offensive im Oblast Kursk hat Moskaus Truppen überrumpelt. Unter ihnen sind junge Wehrdienstleistende und Soldaten der autonomen Republik Tschetschenien. Blick besuchte sie in einem Kriegsgefängnis an der Grenze.
Publiziert: 15.09.2024 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 16.09.2024 um 09:26 Uhr

Auf einen Blick

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Kantemir (24) war für die russische Armee in Kursk stationiert, als die Ukrainer einfielen.
Foto: Helena Schmid
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Helena SchmidReporterin

Aus Kantemirs Gesicht sind alle Anzeichen seiner Jugend verschwunden. Der 24-Jährige sitzt auf der Kante eines rostigen Stockbetts. Sein Haar ist schütter, die Augen haben keinen Glanz, er runzelt die Stirn. «Ich habe in Russland meinen Wehrdienst geleistet», erzählt er und beharrt darauf, Englisch zu sprechen: «Die Behörden haben mir garantiert, dass ich nicht in die Ukraine oder an die Grenze geschickt werde. Aber etwas ist schiefgelaufen.»

Kantemir war in Kursk stationiert, als die Armee der Ukraine Anfang August erstmals auf russischen Boden vordrang. Nun sitzt er in einem Gefängnis in der ukrainischen Region Sumy, etwa 40 Kilometer vor der Grenze. Ein paar Dutzend Kriegsgefangene sind hier eingesperrt, aber auch ein paar ukrainische Mörder.

Die russische Armee habe ihn zum obligatorischen Militärdienst einberufen, erzählt Kantemir. «Sie haben uns Rekruten versichert, dass wir nicht in die Ukraine oder an die Grenze geschickt werden. Aber wir wurden alle angelogen!» Auch Präsident Wladimir Putin (71) hatte bisher immer betont, dass Wehrpflichtige nur auf russischem Boden und nicht in der sogenannten Spezialoperation zum Einsatz kämen.

«Wir wollen keine Ukrainer töten»

Als die ukrainische Armee Anfang August die Grenze zu Kursk stürmt, verstecken sich Kantemir und seine Kameraden vor den bewaffneten Drohnen und Raketen. Er erzählt: «Neun Tage lang trauten wir uns kaum, aus der Deckung zu kommen. Als die Soldaten näherkamen, legten wir die Waffen nieder und stellten uns.»

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Kantemir sagt, er habe nie auf einen gegnerischen Soldaten geschossen. «Wir wollen keine Ukrainer töten», versichert er. Er und seine Truppe hätten sich häufig nicht einmal getraut, ukrainische Drohnen abzuschiessen: «Wir hatten Angst, dass sie uns finden.»

Die Aussagen von Kantemir lassen sich nicht überprüfen. Er hat sich freiwillig gemeldet, uns ein Interview zu geben – ohne Gegenleistung. Während des Gesprächs mit Blick war ein ukrainischer Presseoffizier mit im Raum. Das ist wichtig zu wissen, denn es beeinflusst, wie sich ein Kriegsgefangener verhält, was er sagt.

«Ich hasse die russischen Gefangenen»

Gefängnisvorsteher Wolodimir (50) hat unzählige Geschichten wie die von Kantemir gehört. «Die Gefangenen erzählen alle dasselbe. Sie seien in die russische Armee eingezogen worden, erst wenige Tage an der Front gewesen, hätten niemanden getötet. Sie hoffen, dass sie sich so einen Vorteil verschaffen.»

Wolodimir, der wie Kantemir seinen Nachnamen nicht gedruckt sehen möchte, ist es wichtig, zu sagen, dass alle Gefangenen gleich behandelt werden – ob russische Soldaten oder ukrainische Mörder: «Ich gebe zu, ich hasse die russischen Gefangenen. Aber ich lasse nicht zu, dass der Hass meine Entscheidungen beeinflusst.»

Die ukrainische Armee betont wie der Gefängnisdirektor, man halte sich an die Genfer Konventionen. «Die Häftlinge bekommen drei Mal am Tag etwas zu essen. Und es sind grosse Portionen. Sie dürfen mindestens einmal täglich nach draussen und einmal wöchentlich duschen», erklärt Wolodimir.

«Ergebt euch und ihr werdet überleben»

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) komme wöchentlich vorbei, um dies zu überprüfen. Ukrainische Medien berichteten, man verwehre den Gefangenen das Recht, ihre Angehörigen zu kontaktieren. Die ukrainische Ombudsstelle bestätigte: Es handle sich um eine vorübergehende Strafe, weil russische Soldaten kürzlich ukrainische Kriegsgefangene hingerichtet oder ihnen die Hände abgehackt hatten.

Der Gefängnisvorsteher ergänzt: «Viele dieser Soldaten haben keine Papiere, wenn sie zu uns kommen. Wir müssen ihre Identität prüfen, bevor wir ihnen Anrufe bei ihren Familien gewähren.»

In einer anderen Zelle sitzen vier tschetschenische Gefangene. Ihr Mittagessen steht noch auf dem Tisch, ein Eintopf in Plastikschalen, unangetastet. Umar* (30) erzählt, wie sein Kommandant aus Angst erstarrte, als die ukrainische Armee in Kursk einfiel: «Sie schossen mit Panzerfäusten, verletzten viele Soldaten unserer Truppe.»

Er habe seinen Kameraden geraten: «Ergebt euch und ihr werdet überleben.»

«Ich will Russland verlassen»

Umar kommt aus Grosny, der Hauptstadt der autonomen Republik Tschetschenien, und betrieb dort einen Imbiss. Im Sommer 2023 wurde er einberufen und an die russisch-ukrainische Grenze geschickt. Auch er behauptet, nie einen ukrainischen Soldaten getötet zu haben, sagt: «Krieg ist etwas Schreckliches!»

Kantemir behauptet das ebenfalls: «Ich bin gegen den Krieg und will Russland verlassen, wenn ich freikomme.»

Doch Russland als Aggressor anzuerkennen, wagen weder Kantemir noch Umar. «Es gibt auf beiden Seiten brutale Kämpfer», sagt der Tschetschene abschliessend – und wiederholt damit das russische Narrativ, in diesem Krieg nicht der Angreifer zu sein.

*Name geändert

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