Politikwissenschaftler erklärte «geopolitische Gelüste» Russlands
Buch von 1997 prophezeite Ukraine-Krieg

Seit acht Jahren herrscht der Ausnahmezustand in der Ukraine, seit zwei Tagen Krieg. Vor 25 Jahren schrieb ein US-Politikberater ein Buch über die Bedeutung der Ukraine für Russland, das sich jetzt wie eine Prophezeiung liest.
Publiziert: 26.02.2022 um 13:55 Uhr
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Aktualisiert: 26.02.2022 um 15:33 Uhr
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In der Ukraine herrscht seit Donnerstagnacht Krieg.
Foto: keystone-sda.ch

Seit Tagen herrscht in der Ukraine Ausnahmezustand. Russlands Präsident Wladimir Putin hat die beiden Separatistengebiete Donezk und Luhansk offiziell anerkannt und am Donnerstag mit der Invasion des Landes begonnen. Es herrscht Krieg in Europa, ausgelöst durch Russland.

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«Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war». Diese Zeilen von Zbigniew Brzezinski (†89), dem ehemaligen Aussen- und Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter, lesen sich, als wären sie heute geschrieben worden. Sein Buch «Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft» erschien allerdings im Jahr 1997.

Wer «Eurasien» beherrscht, hat Weltmacht

Wie der «Tagesspiegel» schreibt, ist die Lektüre trotz ihres hohen Alters aus mehreren Gründen «erhellend». Sie enthüllt erstens die Sichtweise eines amerikanischen Politikwissenschaftlers auf die geopolitische Rolle der USA nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Und zweitens gibt die Lektüre einen Einblick in die russische Perspektive. Denn das Buch Brzezinskis wird in Moskau als Beleg für den Wunsch nach Weltherrschaft der USA angesehen. Die Osterweiterung der Nato und die westliche Ukraine-Politik gelten als Bestätigung dieser Interpretation.

In seinem Buch beleuchtet Brzezinski die Rolle des «grössten Kontinents, Eurasien». Eurasien erstreckt sich demnach von Lissabon bis Wladiwostok. Für ihn steht fest: Wer Eurasien beherrscht, würde über zwei der drei höchstentwickelten und wirtschaftlich produktivsten Regionen regieren. «Nahezu 75 Prozent der Weltbevölkerung leben in Eurasien, und in seinem Boden wie auch seinen Unternehmen steckt der grösste Teil des materiellen Wachstums der Welt. Als Ganzes genommen stellt das Machtpotenzial dieses Kontinents das der USA weit in den Schatten.»

So sah der Politikwissenschaftler Amerikas Vorrangstellung in Eurasien bedroht, falls sich die Staaten der ehemaligen Sowjetunion erneut zusammenschliessen und dem Westen «eine Abfuhr» erteilen würden. Aus diesem Grund müsse das Aufkommen, aus seiner amerikanischen Sicht, einer «dominierenden, gegnerischen Macht» unbedingt verhindert werden. Seine damaligen Erkenntnisse lassen erahnen, was die russische Regierung in Moskau vorhaben könnte.

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Russland soll ukrainische Grenzen «ohne Wenn und Aber» anerkennen

Ein zentrales Mittel dazu sei die Osterweiterung der Nato. Wenn diese scheitern sollte, würden «möglicherweise die gegenwärtig schlummernden oder verkümmernden geopolitischen Gelüste Russlands in Mitteleuropa neu entzündet». Dreh- und Angelpunkt sei die Entwicklung in der Ukraine, denn sie sei «der kritische Punkt». Nur mit der Ukraine könne Russland zu einem eurasischen Reich werden und seine beherrschende Position am Schwarzen Meer behaupten. Ohne die Ukraine seien die Russen gezwungen, ihre eigene politische und ethnische Identität zu überdenken, schreibt Brzezinski.

Weiter heisst es: «Zudem hatte der ungeschickte Umgang Russlands mit dem neuen ukrainischen Staat – seine mangelnde Bereitschaft, dessen Grenzen anzuerkennen, sein Bestreiten des ukrainischen Rechts auf die Krim, sein Beharren auf der ausschliesslich exterritorialen Kontrolle über den Hafen von Sewastopol – dem neuerwachten ukrainischen Nationalismus eine unverkennbar antirussische Schärfe verliehen.» Damals forderte Brzezinski, dass Russland die Unabhängigkeit der Ukraine, deren Grenzen und eigenständige Nationalität «ohne Wenn und Aber» anerkennt und respektiert. Mit Blick auf die aktuelle Situation ging sein Wunsch allerdings nicht in Erfüllung. (chs)

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