«Wir tun alles, damit zwei Familien einfach leben können»
3:15
Bieler nimmt Flüchtlinge auf:«Wir tun alles, damit zwei Familien einfach leben können»

Olga und Vesta flüchteten von Kryvyi Rih nach Biel BE
«Jede Nacht sehe ich in meinen Träumen Bilder aus dem Krieg»

Mehr als 9000 Geflüchtete aus der Ukraine haben sich in der Schweiz registriert. Olga und Vesta verspüren Erleichterung, Angst um die Liebsten – und Hoffnung.
Publiziert: 20.03.2022 um 14:57 Uhr
|
Aktualisiert: 20.03.2022 um 16:35 Uhr
1/16
Vesta Brandt (rechts) und ihre beste Freundin Olga Plastun sind vor zwei Wochen in die Schweiz geflüchtet.
Camille Kündig

Sonntag:
Erinnerungen an die Krim

Olga: Eine Woche ist es her, dass wir in Biel angekommen sind, in Sicherheit vor den russischen Bomben. Jede Nacht sehe ich in meinen Träumen Bilder des Kriegs. Jeden Morgen hoffe ich zu lesen, dass der Krieg zu Ende ist. Ich mache mir solche Sorgen um unsere Verwandten und Freunde, die in der Ukraine geblieben sind. Andreas, seine Tochter Diana und ihr Freund Leon wollten uns ablenken und fuhren mit uns nach Neuenburg. Wir sind den See entlang und durch die Innenstadt spaziert. Wie schön die französische Architektur dort ist! Vieles hat mich an die Krim erinnert. Bevor sie von Russland annektiert wurde, waren wir mehrmals mit meiner Mutter und Grossmutter in den Ferien im Badeort Jalta, an der Neuenburger Seepromenade sieht es sehr ähnlich aus.

Mit ihren Schweizer Helfern sind die Frauen diese Woche nach Neuenburg gefahren, um sich von dem Geschehen in der Heimat abzulenken.

Montag:
Neuer Alltag

Tag 19 des Kriegs. Heute waren wir mit Doris, einer sehr lieben älteren Dame, in der Migros. Dort haben wir alle nötigen Zutaten für Borschtsch gefunden, eine würzige ukrainische Suppe. Es sind kleine Dinge wie diese, die uns in dieser Zeit guttun. Später waren wir mit meiner Mutter beim Zahnarzt, um eine Krone zu ersetzen. Der Arzt, ein Kollege von Andreas, hat den Eingriff kostenlos durchgeführt.

Vesta: Eva besucht seit der Covid-Krise eine ukrainische Onlineschule. Sie hat Hausaufgaben, Turnlektionen, Prüfungen … Sie hält sich wacker, ist oft auf Tiktok oder spielt Onlinespiele. Das hilft ihr, sich von dem Schrecken in unserem Land abzulenken. Sie träumt davon, Ärztin zu werden. Ich schaue mich nun nach einem Deutschkurs um, damit sie bald andere Teenager kennenlernen kann.

Valentina Plastun musste diese Woche zum Zahnarzt, um eine Krone zu ersetzen. Der Arzt, ein Schweizer Freund der Frauen, hat den Eingriff kostenlos durchgeführt.

Dienstag:
Ukrainischer Stolz

Olga: Es ist schön, beim Aufwachen die Berge zu sehen. Meine Mama und meine Oma haben Omeletten mit Gemüse gekocht. Wir schauen BBC, schreiben und telefonieren wie jeden Morgen mit unseren Verwandten. In der Hoffnung, dass es ihnen gut geht. Sie leben in einer neuen Realität mit Strassen voller Soldaten, heulenden Sirenen. Später sind wir durch Biel spaziert. Die Leute hier sind alle freundlich, das ist sehr tröstend. Alle mögen meine Oma sehr, sie nennen sie Babuschka oder Boss.

Vesta: Wie unsere Armee es schafft, die Invasoren aufzuhalten, macht mich stolz. Und auch sonst das Engagement der Menschen. Übrigens stammt Präsident Wolodimir Selenski wie wir aus Krywyi Rih. Mein 21-jähriger Neffe, der eine leichte Behinderung hat und trotzdem nicht ausreisen darf, hilft als Freiwilliger. Er verteilt Kleidung an andere Ukrainer, die aus der umkämpften Frontstadt Charkiw in unsere Heimatstadt flüchten. Nicht alle schaffen es bis ins Ausland.

Wie viele Flüchtlinge kommen?

Niemand kann vorhersagen, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer Putins Krieg noch aus ihrer Heimat vertreibt. Und wie viele dieser Menschen in der Schweiz Schutz suchen werden. Bundesrätin Karin Keller-Sutter (58, FDP) sprach im Parlament von 35'000 bis 50'000 Personen bis Anfang Sommer. Eckwerte, an denen das Staats­sekretariat in einem Schreiben an die Kantone am Freitag festhielt. Aber auch diese Schätzung des Bundes bleibt notwendigerweise vage und hängt von der Entwicklung des Kriegs ab.

Die Kantone rechnen derweil mit höheren Zahlen. Allein Bern geht von 30'000 Flüchtenden aus, der Aargau von 20'000. Damit wäre die Obergrenze des Bundes bereits erreicht. Das ist aber nicht zwingend ein Widerspruch: Beide Kantone versuchen in ihren Sze­narien, die Anzahl Flüchtlinge bis Ende Jahr zu schätzen, und gehen so ­implizit von einer längeren Dauer des Kriegs aus.

Niemand kann vorhersagen, wie viele Ukrainerinnen und Ukrainer Putins Krieg noch aus ihrer Heimat vertreibt. Und wie viele dieser Menschen in der Schweiz Schutz suchen werden. Bundesrätin Karin Keller-Sutter (58, FDP) sprach im Parlament von 35'000 bis 50'000 Personen bis Anfang Sommer. Eckwerte, an denen das Staats­sekretariat in einem Schreiben an die Kantone am Freitag festhielt. Aber auch diese Schätzung des Bundes bleibt notwendigerweise vage und hängt von der Entwicklung des Kriegs ab.

Die Kantone rechnen derweil mit höheren Zahlen. Allein Bern geht von 30'000 Flüchtenden aus, der Aargau von 20'000. Damit wäre die Obergrenze des Bundes bereits erreicht. Das ist aber nicht zwingend ein Widerspruch: Beide Kantone versuchen in ihren Sze­narien, die Anzahl Flüchtlinge bis Ende Jahr zu schätzen, und gehen so ­implizit von einer längeren Dauer des Kriegs aus.

Mittwoch:
Tiefpunkt

Vesta: Der schwierigste Tag, seit wir in der Schweiz sind. Evas Vater hat angerufen. Ein emotionales Telefonat. Er kämpft an der Front. Die russischen Soldaten sind jetzt ganz in der Nähe, nur noch etwa 60 Kilometer von Krywyi Rih entfernt.

Olga: Um zwei Uhr nachts haben wir per Telegram erfahren, dass die Sirenen heulen. Ich hatte solche Angst um meine Freunde. Bis um sechs Uhr lagen wir alle wach. Gott sei Dank ist ihnen nichts passiert. Die Lage ist angespannt, bleibt aber unter Kontrolle. Wir haben enormes Glück im Unglück. Wir waren bei Schweizer Freunden zum Abendessen eingeladen. Wir haben zusammen Raclette gegessen. Das hat uns an diesem schwierigen Tag sehr geholfen.

An einem anderen Abend waren sie zum Raclette-Essen eingeladen.

Donnerstag:
Grosse Angst

Vesta: Ich erfahre, dass in Dnipro schon wieder vier Raketen detoniert sind. Putins Armee kommt immer näher. Ich kann nicht schlafen, scrolle immer nur durch Telegram. Ich fürchte mich vor einem nächtlichen Anruf von Mama. Denn der wird nur eines bedeuten: Dass die Eindringlinge in der Stadt sind.

Olga: Ich war mit der Wäsche beschäftigt und realisierte plötzlich, dass mein eigentliches Leben am 24. Februar auf einen Schlag geendet hat. Zum Glück habe ich enge Bezugspersonen und einen guten Freund, der optimistisch ist. Unsere Gespräche helfen mir, nicht depressiv zu werden.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Freitag:
Neue Hoffnung

Olga: Frühmorgens reinige ich den Boden unserer Wohnung. Das Putzen ist meine tägliche Routine, da ich sonst nichts zu tun habe. Ich hoffe, dass wir bald arbeiten dürfen. Registriert haben wir uns bereits letzten Freitag, aber wir warten immer noch auf den S-Ausweis. Am liebsten würde ich wieder als Tanzlehrerin unterrichten. Ich schaue Fotos unserer Vorführungen an und hoffe, meinen Schülern geht es gut. Ich weiss, dass das Leben nie wieder dasselbe sein wird. Wir müssen jetzt vorwärtsschauen.

Aktuell ist das Putzen ihre tägliche Routine, da ihr langweilig ist. Sie möchte schnellstmöglichst wieder arbeiten.
Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?