Es gibt ein paar Tage im Jahr, da passiert in Florenz Merkwürdiges. Dann dreht die kultivierte Stadt im Herzen der Toskana durch. Dann verliert die Wiege des europäischen Humanismus ihre Menschlichkeit – und die Ratio gleich mit. Dann fliesst auf der von Touristen rege frequentierten Piazza Santa Croce nicht der Espresso, sondern das Blut. Dann lassen die sonst so sympathisch schwatzhaften Florentiner für einmal nur ihre Fäuste sprechen.
Am vergangenen Samstag war wieder so ein merkwürdiger Tag. Am 24. Juni, dem Geburtstag von Johannes dem Täufer, des Schutzpatrons von Florenz, fand der Final des Calcio Storico, des «historischen Fussballs», statt – eine Mischung aus Fussball, Rugby und Boxen. Das wohl brutalste Endspiel der Welt. Und die Florentiner lieben es.
Der Fight Club von Florenz
Der Sport – sofern man den Calcio Storico als solchen bezeichnen mag – hat in Florenz Tradition. Die vier am Spiel teilnehmenden Mannschaften stehen für die vier historischen Viertel der Stadt. Eine Farbe für jedes Viertel: Blau für Santa Croce, Rot für Santa Maria Novella, Grün für San Giovanni und Weiss für Santo Spirito.
Pro Farbe geben sich dann jeweils 27 Florentiner im Sand aufs Dach. Ein Spiel dauert 50 Minuten. Ziel ist es, einen Ball ins Netz der gegnerischen Mannschaft zu befördern. Gelingt das, gibt es einen Punkt. Fliegt der Ball drüber, erhält der Gegner jedoch einen halben Punkt.
Unterbrechungen gibt es keine. Verschnaufpausen bekommen die Calcianti, wie die Spieler genannt werden, aber genügend; nämlich immer dann, wenn die Sanitäter einen Verletzten vom Platz tragen müssen – was zuweilen im Minutentakt geschieht.
2014 musste das Finale von Bürgermeister abgesagt werden. Das Halbfinale war eskaliert, vom Platz verwiesene Calcianti wollten sich weiterprügeln. Die Veranstalter sahen sich danach gezwungen, das Regelwerk anzupassen. Seither muss jedes Viertel der Stadt vorab eine Teilnehmerliste schicken. Vorbestraften und Kleinkriminellen wurde die Erlaubnis entzogen. Übrig blieb so etwas wie der Fight Club von Florenz: Anwälte, Gärtner, Arbeitslose, Studenten.
Devise: Florence first!
Um das gegnerische Team am Punkten zu hindern, ist so gut wie jedes Mittel erlaubt. Schläge, Tritte, Ringer-Griffe. Lediglich zu zweit auf einen Spieler eindreschen ist verboten, ebenso Tritte gegen den Kopf und Angriffe von hinten. Nicht selten kommt es daher vor, dass rund die Hälfte der Calcianti wegen ihrer Verletzungen nicht zu Ende spielen können.
Trotz dieser abschreckenden Statistik wird der Sport immer populärer, auch ausserhalb von Florenz. Im April liefen die zum Calcio Storico gehörenden Fahnenträger durch New York, Mitte Mai fand ein nicht ganz ernst gemeintes Vorführspiel aller Farben in Marseille statt. Weitere Städte sollen folgen.
Wer nun ebenfalls an eine Teilnahme denkt, sei aber gewarnt. Trotz Kommerzialisierung gilt auch nach 500 Jahren Calcio Storico die Devise: Florence first! Pro Team dürfen nur zwei Calcianti nicht gebürtige Florentiner sein oder nicht in Florenz wohnen. Der Ticketverkauf erfolgt erst in Florenz und für Florentiner, dann, drei Tage später, online.
Polizeieinsatz gegen Prügler
Nichtsdestotrotz wollen die Veranstalter den Sport international noch bekannter machen. Es gebe Anfragen aus aller Welt. Einfach wird das nicht. Denn die krassen Bilder von der Piazza Santa Croce sind nicht jedermanns Sache. So versuchte der Veranstalter für den diesjährigen Final zum wiederholten Male eine Liveübertragung auf dem öffentlichen Fernsehsender Rai zu organisieren. Der Sender spielte aber nicht mit. Grund: Zu brutal für das Nachmittagsprogramm (Anpfiff ist um 17 Uhr).
Gewonnen haben den Final in diesem Jahr übrigens die favorisierten «Weissen» aus Santo Spirito – mit 6 zu 5,5 gegen die «Roten» aus Santa Maria. Auch diesmal musste die Polizei einschreiten, um prügelnde Calcianati zu trennen (BLICK berichtete). Für die Sieger gabs statt einer goldenen Trophäe ein weisses, unschuldiges Kalb. Auch das eine florentinische Tradition.