Darum gehts
- Erneute Proteste in Istanbul gegen Erdogan-Regierung nach Imamoglu-Festnahme
- CHP-Chef ruft zu regelmässigen Protesten auf, warnt vor Ende der Wahlen
- Fast 2000 Menschen bei Demonstrationen festgenommen laut Innenministerium
Zehn Tage nach der Festnahme des abgesetzten Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu (53) haben in der Stadt erneut zahlreiche Menschen gegen die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan (71) protestiert. Die Oppositionsanhänger versammelten sich bei der am Samstagvormittag beginnenden Demonstration zunächst im Stadtteil Maltepe auf der asiatischen Seite der Bosporus-Metropole.
Erstmals seit Dienstag wieder hatte Imamoglus CHP-Partei zum Protest aufgerufen. CHP-Chef Özgür Özel appellierte, den «Marsch zur Macht» fortzusetzen. Imamoglu sei verhaftet worden, weil er sich dem «Diktator» widersetzt habe, sagte der Özel. Gegen Mittag berichtete die Nachrichtenagentur AFP von «Hunderttausenden», die an den Protesten teilnehmen.
Am Morgen waren die Demonstrierenden auf von der CHP gecharterten Fähren über den Bosporus zum Versammlungsort gefahren. Viele trugen türkische Flaggen und Porträts von Republik- und CHP-Gründer Mustafa Kemal Atatürk.
Korruptionsvorwürfe gegen Imamoglu
Imamoglu war am 19. März festgenommen worden, am Sonntag hatte ein Gericht wegen Korruptionsvorwürfen Untersuchungshaft gegen ihn angeordnet, wenig später wurde er als Bürgermeister von Istanbul suspendiert. Nun wird er im Marmara-Gefängnis in Silivri, dem grössten Gefängnis Europas, festgehalten. Es laufen auch Ermittlungen wegen angeblicher Terrorunterstützung gegen ihn. Der beliebte Oppositionspolitiker gilt als wichtigster Rivale Erdogans. Seine linksnationalistische CHP kürte ihn trotz seiner Inhaftierung am Montag zum Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2028.
Am Freitag schrieb der 53-Jährige aus dem Gefängnis heraus einen Gastbeitrag für die «New York Times», in dem er beschrieb, wie sich die Türkei unter Erdogan in eine «Republik der Angst» verwandelt hat. «Jahrelang hat Erdogans Regime die demokratischen Kontrollmechanismen ausgehebelt, indem es Medien zum Schweigen brachte, gewählte Bürgermeister durch Bürokraten ersetzte, die Legislative ausschaltete, die Justiz kontrollierte und Wahlen manipulierte.»
«Niemand ist sicher»
Dem Oppositionspolitiker wurde auch sein Universitätsabschluss entzogen. Imamoglu sieht darin einen weiteren Versuch Erdogans, ihn auszuhebeln. Die türkische Verfassung schreibt nämlich vor, dass der Präsident oder die Präsidentin einen Hochschulabschluss hat. «Da er mich an der Wahlurne nicht besiegen kann, hat Erdogan andere Mittel gewählt.»
Weiter warnte Imamoglu von einer gezielten Demontage der Demokratie. «Niemand ist sicher. Stimmen können für ungültig erklärt, Freiheiten in einem Augenblick entzogen werden.» Über seine Festnahme schrieb er, sie habe jener eines Terroristen geglichen – nicht der eines gewählten Bürgermeisters von Istanbul, der grössten Stadt der Türkei.
Dem Westen wirft er gleichzeitig vor, untätig zu bleiben. «Das Schweigen ist ohrenbetäubend», kritisierte der 53-Jährige. «Mit wenigen Ausnahmen haben europäische Staats- und Regierungschefs keine klare Stellung bezogen.» Erdogan bezeichnete die andauernden Proteste gegen ihn währenddessen als «Bewegung der Gewalt».
Fast 2000 Menschen festgenommen
Die CHP hatte seit Dienstag nicht mehr zu Protesten aufgerufen, die Demonstrationen war vor allem von Studierenden fortgesetzt worden. Özel sagte der französischen Zeitung «Le Monde» vom Samstag jedoch, dass es jetzt regelmässige Proteste geben solle. «Jeden Samstag in einer türkischen Stadt» und jeden Mittwoch in Istanbul.
Er rechne damit, dass die Zahl der Festnahmen zurückgehen werde, sagte der CHP-Chef weiter. «Wenn es sein muss», sei er aber bereit «acht, zehn Jahre im Gefängnis zu verbringen». Denn sollten die Proteste jetzt nicht fortgesetzt werden, werde es bald keine Wahlen mehr in der Türkei geben, warnte Özel.
Imamoglus Festnahme hatte die grössten Demonstrationen seit den Gezi-Protesten von 2013 ausgelöst. Die Behörden sprachen Versammlungsverbote aus und gehen mit zunehmender Härte gegen die Demonstrationen und Medien vor. Nach Angaben des Innenministeriums wurden inzwischen fast 2000 Menschen festgenommen.