Der russische Oligarch Roman Abramowitsch (55) soll nach einem Treffen im Rahmen der Friedensverhandlungen zwischen Russland und der Ukraine vergiftet worden sein. Auch zwei Mitglieder des ukrainischen Teams, darunter der Abgeordnete Rustem Umerow (39), sollen nach dem Zusammenkommen in Kiew am 3. März über rote Augen, ständiges und schmerzhaftes Tränen sowie sich schälende Haut im Gesicht und an den Händen geklagt haben. Darüber berichtete «The Wallstreet Journal» mit Berufung auf einen Vertrauten Abramowitschs sowie ein «Spiegel»-Reporter.
Nach Angaben der Recherche-Plattform «Bellingcat» sei es sehr wahrscheinlich, dass die Personen mit chemischen Kampfstoffen vergiftet worden seien. Welche genau, könne man nicht sagen, da in der Nähe der Opfer keine spezielle Laborausrüstung vorhanden war.
Fachärzte sagten dem Recherche-Netzwerk, dass die Art und die Dosis wohl nicht ausgereicht hätten, um lebensbedrohliche Schäden zu verursachen. Es sei wahrscheinlicher, dass die Angreifer die Opfer lediglich erschrecken wollten. Eine Warnung also an Abramowitsch und das Team rund um die Friedensverhandlungen.
Ukrainer weisen Meldungen zurück
Gesichert ist allerdings noch gar nichts. Die ukrainischen Betroffenen weisen die Berichte zurück. Alle Mitglieder der Verhandlungsgruppen würden normal arbeiten, sagte der ukrainische Unterhändler Michajlo Podoljak (50). Auch der US-Geheimdienst dementiert die Vergiftungs-Vermutungen.
«BBC» hat am Montag zunächst mit Berufung auf eine Person aus Abramowitschs Umfeld berichtet, dass dieser eine Zeit lang komplett die Sehfähigkeit verloren haben soll. Der Chelsea-Boss und Umerow sollen in einer Istanbuler Klinik behandelt worden sein.
Nach Angaben der «BBC»-Quelle sollen die Opfer selbst gesagt haben, sie wüssten nicht, wer ein Interesse an einem Angriff gehabt haben könnte. Später wurde die Meldung zurückgezogen. «Der Vertreter von Roman Abramowitsch äusserte sich nicht zu der Vergiftungssituation», schrieb die Zeitung in einem Telegram-Post.
Russische Hardliner?
Sollte an den Vergiftungsmeldungen etwas dran sein, stellt sich die Frage, wer dahinter stecken könnte. Nicht weiter bekannte Personen, die den ukrainischen Unterhändlern nahestehen, machen russische Hardliner aus Moskau für den mutmasslichen Anschlag verantwortlich. Sie sollen angeblich versucht haben, die Gespräche zur Beendigung des Krieges in der Ukraine zu sabotieren.
Für diese Theorie würde der Umstand sprechen, dass das nicht die erste Vergiftung ist, die dem russischen Machtapparat zugeschrieben wird. Schon in der Vergangenheit setzte der Kreml auf diese Methode, um Kritiker und Feinde auszuschalten.
Alexej Nawalny (45)
Der Giftanschlag auf den schärfsten Kremlkritiker ereignete sich am 20. August 2020. Der Oppositionspolitiker verlor während des Flugs von Tomsk nach Moskau das Bewusstsein. Zwei Tage später wurde er von Omsk – wo die Maschine zwischenlanden musste – in die Berliner Charité-Klinik verlegt.
In einem deutschen Speziallabor wurde eine Vergiftung mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok festgestellt. Im September haben auch Speziallabore in Schweden und Frankreich den Befund bestätigt. Deshalb und wegen weiterer Enthüllungen steht der russische Geheimdienst im Verdacht, für den Anschlag verantwortlich zu sein.
Wiktor Juschtschenko (68)
2004 wurde der damalige Oppositionskandidat und spätere Präsident der Ukraine, Viktor Juschtschenko, schwer krank, nachdem er Reis gegessen hatte. Österreichische Ärzte stellten drei Monate später eine Dioxinvergiftung beim Helden der sogenannten Orangenen Revolution fest. Juschtschenko beschuldigte Moskau, die ukrainischen Täter zu schützen und so fürs Verbrechen mitverantwortlich zu sein. Sein Gesicht ist bis heute von der Vergiftung gezeichnet.
Alexander Litwinenko (1962-2006)
Der frühere russische Agent und Kreml-Kritiker starb 2006 im Exil in London an einer Vergiftung mit hochgradig radioaktivem Polonium. Zuvor hatte er mit den russischen Geschäftsmännern und Ex-KGB-Agenten Dmitrij Kowtun (57) und Andrej Lugowoj (55) Tee getrunken. London gibt Moskau die Schuld, das jegliche Verantwortung bestreitet.
Wladimir Kara-Mursa (40)
Wladimir Kara-Mursa war Berater des 2015 in Moskau erschossenen Oppositionspolitikers Boris Nemzow (1959-2005). Wenige Monate nach Nemzows Ermordung fiel er nach einem Mittagessen in Moskau mit plötzlichem Nierenversagen ins Koma. Ärzte diagnostizierten eine Vergiftung, konnten aber keine verursachende Substanz identifizieren. Kara-Mursa reiste zur medizinischen Behandlung in die USA, wo seine Familie bis heute lebt. Im Februar 2017 wurde er erneut auf einer Moskauer Intensivstation eingeliefert – nach Angaben seines Anwalts wieder mit Vergiftungserscheinungen. «Meine Überlebenschancen lagen bei fünf Prozent», sagte er zu Blick in einem Interview. Inzwischen lebt er dauerhaft im Ausland.
Sergej Skripal (70)
Der ehemalige Doppelagent und seine Tochter Julia (38) wurden im März 2018 im englischen Salisbury dem in der Sowjetunion entwickelten Nervengift Nowitschok ausgesetzt. Beide entgingen nur knapp dem Tod. Westliche Geheimdienste beschuldigen die russische Regierung, den Anschlag als Vergeltung für Skripals Tätigkeit als Doppelagent veranlasst zu haben. Eine 44-jährige Britin, die später mit dem Nervengift in Kontakt kam, starb.
Pjotr Wersilow (34)
Im September 2018 wurde der russische Aktivist der Protestgruppe Pussy Riot mit möglichen Symptomen einer Vergiftung in ein Moskauer Spital gebracht. Später kam er zur Behandlung in die Berliner Charité. Wersilow macht für seine mutmassliche Vergiftung den russischen Geheimdienst verantwortlich. Als Hintergrund für die Attacke geht er von einem Zusammenhang zu seinen Recherchen über drei im Juli 2018 ermordete russische Journalisten in Zentralafrika aus, die dort den Aktivitäten der kremlnahen Söldnertruppe Wagner auf der Spur waren. (man)