Marrakesch-Bombe: Vater der toten Schweizerin am Terror-Prozess
Ich wollte den Killer meiner Cristina sehen!

Es ist die traurigste Reise seines Lebens. Arnaldo Caccia flog nach Marokko, das Foto seiner Tochter (†25) im Gepäck.
Publiziert: 30.10.2011 um 01:59 Uhr
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Aktualisiert: 07.10.2018 um 14:07 Uhr
Von Myrte Müller aus Marokko

Im Gerichtssaal geht es zu wie auf dem Basar. Die Türen stehen offen, Menschen strömen in Massen hinein und wieder hinaus. Arnaldo Caccia (57) sitzt in der Zuschauerbank, auf dem Schoss eine Aktentasche, darin ein grosses Foto seiner Tochter Cristina (†25): das letzte Bild. «Chicchi», wie Familie und Freunde sie nannten, war das 17. Todesopfer des Bombenanschlags von Al Kaida in Marrakesch.

Arnaldo Caccia, Tessiner Vizebürgermeister, ist in Rabat, der Hauptstadt Marokkos. Um dabei zu sein, wenn die Mörder Chicchis und ihrer Freunde verurteilt werden. «Ich will dem Killer meiner Tochter in die Augen sehen», sagt Arnaldo Caccia entschlossen.
Er packt das Foto aus. Ein Fotograf hat es wenige Minuten nach dem Attentat auf das weltberühmte Café Argana am Platz der Gaukler geschossen. Zerfetzte Fassaden, zerfetzte Menschen. Gleich vorne auf dem Bild sitzen Cristina und ihre Freundin Morena Pedruzzi. Chicchis Augen sind aufgerissen. Die Haare stehen ihr zu Berge. Morena weint. Ihre Füsse sind nur noch blutende Klumpen. Die Haut der jungen Frauen ist verbrannt.

Arnaldo Caccia zeigt das Foto der blonden Frau im Gerichtssaal herum. «Das ist meine Tochter. Sie ist tot.»

Cristinas Mutter ist nicht nach Marokko mitgekommen. Sie verabschiedete sich in Cadenazzo TI von ihrem Mann. «Das Urteil bringt uns Cristina nicht zurück», hatte Neva Caccia (53) gesagt. Es fällt ihr schwer, über den Verlust der Tochter zu sprechen. Die Erinnerung an das, was am 28. April 2011 geschah, schmerzt zu sehr.

Zwei Tessiner sofort tot

Ihr Mann spricht für beide. «Es war Mittag. Im Teletext lasen wir: Attentat in Marrakesch. Zwei Schweizer verletzt», erinnert sich Arnaldo Caccia. «Wir waren sehr beunruhigt.» Ihre Tochter war zusammen mit ihrem Verlobten Corrado Mondada (27) und dem befreundeten Pärchen André da Silva (23) und Morena Pedruzzi (26) nach Marokko gereist.

Caccia: «Wir riefen im Hotel an. Dort beruhigte man uns. Die vier seien frühmorgens zu einem Wüstentrip aufgebrochen.» Dann geschieht etwas Gespenstisches. «Gegen 15 Uhr erhielt Corrados Mutter ein SMS vom Sohn. Sie seien nicht in die Wüste gefahren, schreibt er. Er habe sich krank gefühlt. Was niemand weiss: Corrado ist, als die Mutter seine Nachricht liest, schon tot. «Das SMS kam mit fünf Stunden Verspätung», erklärt Caccia.

Eine fieberhafte Suche beginnt. Am Abend meldet sich das Aussendepartement (EDA) bei den Familien. Die beiden Frauen lägen im marokkanischen Krankenhaus. Die Männer seien vorerst unauffindbar. «Die Rega flog unsere Mädchen nach Zürich. Die Leichen ihrer Freunde wurden erst Tage später identifiziert», so Caccia.

Demo für Terroristen

Vor dem Gericht in Rabat hat sich eine Gruppe muslimischer Demonstranten postiert. Frauen mit Kopftuch, Männer mit Bart. Sie halten Spruchbänder und Bilder der Angeklagten. Im Chor fordern sie Freiheit für ihre Söhne, wettern gegen falsche Beweise und ungerechte Justiz.

Hauptangeklagter ist Adil al-Atmani (25). Verkleidet als Tourist, legte er die Bombe im Café. «Er trug Perücke und Hut, sah lächerlich aus. Corrado hatte noch Witze über ihn gemacht», so Caccia. Das hat ihm Morena erzählt, sie überlebte, verlor aber beide Beine.

Zeugenaussagen führten zur Verhaftung al-Atmanis. Er führte die Polizei zur Perücke. Auf der Flucht hatte er sie in einen Garten geworfen. Sein Handy lag zwischen den Trümmern des Cafés. Später behauptet er, die Beweise seien konstruiert. Er sei nie am Platz der Gaukler gewesen. Sein Geständnis sei falsch. Seine Komplizen verhielten sich genauso. «Diese Männer sind schuldig, und sie sind feige», sagt Arnaldo Caccia. «Warum haben sie sich selbst nicht geopfert? Warum widerrufen sie ihre Geständnisse, nur um ihre Haut zu retten?» Mit schwerem Schritt schiebt sich der Tessiner durch die aufgebrachte Menge. «Meine Gefühle sind wie betäubt. Ich will keine Rache, und ich hasse niemanden. Ich bin gegen die Todesstrafe. Grundsätzlich. Doch es ist richtig, dass die Attentäter büssen, nie wieder freikommen. Die Welt muss wissen: Kein Terrorist kommt davon.»

Was Chicchi nie erfuhr


Als Cristina im Unispital Zürich ankommt, steckt noch ein Splitter in ihrem Körper, sie hat Verbrennungen dritten Grades, Frakturen an den Füssen und wird sofort operiert. «Cristina ging es immer besser. Es sah gut aus, wir hatten grosse Hoffnung», sagt ihr Vater.

Chicchi kann sprechen. Als Erstes fragt sie nach Corrado, ihrem Verlobten. «Wir konnten ihr nicht sagen, dass er tot ist und erklärten, dass man noch nach ihm sucht», so Arnaldo Caccia.
Cristina muss sich einer zweiten Operation unterziehen. Dann verschlechtert sich plötzlich ihr Gesundheitszustand. «Ihr Gesicht war geschwollen. Sie fühlte sich so kalt an», erinnert sich die Mutter unter Tränen. «Sie hatte einfach keine Kraft mehr», sagt ihr Vater. Am selben Tag, als Corrado im Tessin zu Grabe getragen wird, stirbt Chicchi an einer Infektion. Als habe sie es gespürt, als wollte sie ihm folgen.

Die Augen des Bösen

Hinter Glas recken die Angeklagten die Hälse. Arnaldo Caccia wagt sich ganz nah an die Scheibe heran, blickt einem nach dem anderen in die Augen. «Sie drehen ihre Köpfe weg!» Die Knie des trauernden Vaters werden weich. Seine Hände zittern. Der Tessiner wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Sein Freund Ernestino Boiani (64) legt den Arm um ihn.

Die Eltern der Täter und die Eltern der Opfer sitzen auf derselben Zuschauerbank zusammengedrängt. Die einen rufen auf Arabisch: «Lasst sie frei. Sie sind unschuldig.» Die anderen halten Fotos ihrer verlorenen Angehörigen in die Höhe. Auch Arnaldo Caccia. «Die Terroristen sollen sehen, welches Leid sie uns angetan haben», sagt der CVP-Grossratskandidat, «und nicht nur uns Opferfamilien. Sie haben den ganzen Kanton Tessin verletzt.»

Schulter an Schulter sitzt er auch mit Familien aus Frankreich zusammen. Sie haben acht ihrer Angehörigen verloren, darunter ein zehnjähriges Mädchen. Das Schicksal macht Franzosen und Schweizer in diesem Gerichtssaal zu Seelenverwandten.
Sechs Verteidiger brüllen ihre Plädoyers ins Mikrofon: «Lasst die Anklage fallen. Die Männer sind keine Terroristen. Es fehlen Beweise.» Das letzte Wort haben die Angeklagten. Alle, auch der Bombenleger Adil al-Atmani und Hakim al-Dah (41), Kopf des Anschlags, beteuern ihre Unschuld, winseln um Gnade.

Der Richter bleibt hart. Adil al-Atmani erhält die Todesstrafe, Hakim al-Dah lebenslange Haft. Sechs Mitangeklagte werden zu vier Jahren, verurteilt, einer zu zwei Jahren Gefängnis. Tumult bricht aus. Die Angehörigen der Verurteilten brechen schreiend zusammen.

Arnaldo Caccia ist irritiert. «Das war schrecklich. Man hat schon Mitleid. Doch ich bin sicher, dass hier die Täter zu Recht verurteilt wurden.» Denn er weiss: Die beiden Haupttäter haben im Verhör mit dem Attentat geprahlt. Schlimmer noch. Sie streckten die Finger zum Siegeszeichen und bedauerten, dass nicht noch viel mehr Ausländer bei der Explosion ums Leben kamen. Alles in Anwesenheit französischer Anwälte!

Zwei Kinder verloren

In der Via Carrà von Cadenazzo herrscht Stille, Totenstille. Auf dem Wohnzimmertisch schimmert ein Foto von Cristina im Kerzenschein. Daneben ein Marienbild. Frische Rosen duften. Das Zimmer der Studentin ist noch so, wie sie es verlassen hat. Ihr rosa Karnevalskostüm liegt auf dem Stuhl. An der Wand Fotos von Cristinas Guggenmusik und selbst aufgezogene Perlenketten. Zwischen dem typischen Krimskrams, den junge Frauen so sammeln, steht die weisse Urne auf einem Schränkchen. Cristina ist heimgekehrt. «Manchmal setze ich mich auf ihr Bett und spreche mit ihr», sagt die Mutter.

Es ist nicht das erste Mal, dass Neva und Arnaldo Caccia ein Kind betrauern mussten. 1987 verlor das Ehepaar den einzigen Sohn. Christian war fünf Jahre alt, er starb an Krebs. «Die beiden fehlen mir so. Ich vermisse Cristinas Anrufe, die Gespräche. Es fehlt ihre Liebe.» Die 25-Jährige hatte noch viel vor: «Sie wollte im September Sozialpädagogik studieren», sagt Arnaldo Caccia. Seine Stimme stockt. «Sie war ein so tüchtiges Mädchen. Sie liebte das Leben und die Menschen. Wir haben nun keine Kinder mehr – und keine Freude.»

Die Urteile in Marokko sind ein Trost. Aber noch kann die Familie keinen Frieden finden. «Die Anwälte der Verurteilten gehen in Berufung. Es werden noch quälende Jahre des Rechtskampfs folgen», sagt Arnaldo Caccia. In Rabat hat der Tessiner neue Freunde gewonnen. «Die Franzosen sind gut organisiert. Sie wollen weiterkämpfen. Sie fordern, dass alle neun Terroristen lebenslänglich kriegen. Wir werden uns ihnen anschliessen. Noch in diesem Jahr wird es ein Treffen in Frankreich geben.»

Auch, dass Bombenleger Adil al-Atmani der Tod durch Erschiessen droht, ist noch nicht sicher. Die letzte Hinrichtung in Marokko liegt fast 20 Jahre zurück. 1992 wurde ein Kriminalbeamter exekutiert, weil er eine Frau vergewaltigt hatte. Seit 2004 erwägt das Königreich die Abschaffung der Todesstrafe.

Trotz der unendlichen Trauer um seine Tochter zeigt Arnaldo Caccia Menschlichkeit. «Ich wünsche den Mördern meiner Tochter nicht den Tod. Lebenslange Haft ist Strafe genug.»

Die Bombenleger hatten es auf Touristen abgesehen
Halb elf Uhr morgens am 28. April, Platz der Gaukler in Marrakesch: Im weltberühmten Café Argana geht eine Bombe hoch. 17 Menschen sterben – acht Franzosen, drei Marokkaner, zwei Schweizer, ein Portugiese aus dem Tessin, ein Kanadier, ein Brite und ein Niederländer – über dreissig sind schwer verletzt. Wenige Tage darauf verhaftet die marokkanische Polizei den Hauptverdächtigen Adil al-Atmani (25). Der Marokkaner sympathisiert mit dem Terrornetzwerk Al Kaida. Er gesteht das Attentat, widerruft aber später wie weitere Verdächtige das Geständnis. Nach einem wochenlangen Prozess verurteilt ihn ein Gericht in Rabat in dieser Woche zur Höchststrafe, dem Tod durch Erschiessen.
Halb elf Uhr morgens am 28. April, Platz der Gaukler in Marrakesch: Im weltberühmten Café Argana geht eine Bombe hoch. 17 Menschen sterben – acht Franzosen, drei Marokkaner, zwei Schweizer, ein Portugiese aus dem Tessin, ein Kanadier, ein Brite und ein Niederländer – über dreissig sind schwer verletzt. Wenige Tage darauf verhaftet die marokkanische Polizei den Hauptverdächtigen Adil al-Atmani (25). Der Marokkaner sympathisiert mit dem Terrornetzwerk Al Kaida. Er gesteht das Attentat, widerruft aber später wie weitere Verdächtige das Geständnis. Nach einem wochenlangen Prozess verurteilt ihn ein Gericht in Rabat in dieser Woche zur Höchststrafe, dem Tod durch Erschiessen.
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