Marit Neukomm (32) ist bereits zum zweiten Mal in Idomeni. Sie kam am vergangenen Freitag an - mit vielen anderen freiwilligen Helfern. Zu Hause in Oberentfelden AG arbeitet die Mutter von zwei Kleinkindern als Sportlehrerin. Seit Freitag hilft sie in Idomeni. «Die Situation ist chaotisch», sagte Neukomm gestern zu BLICK.
Die Aargauerin gründete die Hilfsorganisation Volunteers for Humanity, was auf Deutsch «Freiwillige für Menschlichkeit» heisst. «Am dringendsten benötigt werden Hygieneartikel wie Shampoo und Seife.» Neukomm kauft die Artikel vor Ort. «Wir finanzieren auch 500 Kochtöpfe. So können die Familien selber kochen.»
Gastfreundschaft mitten im Elend
Wegen der katastrophalen hygienischen Verhältnisse breiten sich im Lager Krankheiten aus. «Durchfall, Lungenentzündungen, Würmer. Es gibt auch Krätze und Läuse», sagt Neukomm. Morgen kehrt sie in die Schweiz zurück. In Idomeni erlebte sie jedoch auch Positives: «Obwohl die Menschen selber zu wenig haben, laden sie uns zum Essen ein. Die Gastfreundschaft ist beeindruckend.»
Und das mitten im Chaos: Gestern spitzte sich die Situation im Flüchtlingslager weiter zu, als mazedonische Polizisten Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse gegen die Flüchtlinge einsetzten. Die Organisation «Ärzte ohne Grenzen» musste 300 Menschen behandeln, darunter 200 Personen mit Atembeschwerden durch Tränengas, 40 wegen Verletzungen durch Gummigeschosse. Mindestenstens 10 Flüchtlinge berichteten, dass sie von mazedonischen Grenzern verletzt wurden.
Ärzte mussten Kinder mit Kopfverletzungen behandeln
In der Klinik von MSF im Lager wurden etwa dreissig Kinder im Alter zwischen fünf und 15 Jahren behandelt, die Tränengas ausgesetzt waren. Zwei junge Patienten berichteten, dass sie gemeinsam mit zehn weiteren Personen auf mazedonisches Territorium gebracht wurden, wo sie eine Stunde lang von der Polizei geschlagen worden seien.
«Unter den Flüchtlingen, die seit mehr als einem Monat in Idomeni festsitzen, breitet sich Frustration und ein wachsendes Gefühl der Wut aus», sagt Jose Hulsenbek, die Einsatzleitzerin von MSF in Griechenland. «Die Klinik von MSF war den ganzen Tag über voll. Drei Kinder wurden mit Kopfverletzungen durch Gummigeschosse zu uns gebracht. Die Menschen vor der Klinik schrien, und viele von ihnen hatten Gummigeschosse in der Hand», sagt der Arzt Conor Kenny.
Neues Flugblatt provozierte Sturm auf Grenzzaun
Auslöser für den erneuten Sturm auf die stacheldrahtgeschützte Grenze war ein Flugblatt in arabischer Sprache. Darin wurden die Bewohner des Lagers in Idomeni zum «Marsch auf die mazedonische Grenze» aufgerufen. Das Papier zirkulierte schon am Samstag unter den Flüchtlingen. Die Nachricht verbreitete sich auch in anderen Lagern in Grenznähe. Etliche Migranten reisten deshalb gestern extra nach Idomeni. In der Hoffnung, die Grenze endlich passieren zu können.
Wer hinter dem Flugblatt steckt, ist unklar. Seit Ende Februar ist der Grenzübergang nach Mazedonien dicht. Damit ist die Fluchtroute über den Balkan abgeriegelt. Seither sitzen in Idomeni über 11 000 Menschen fest, die nach Westeuropa wollen.
Bereits Mitte März sorgte ein ähnliches Flugblatt für einen Sturm auf den Grenzzaun. Rund 2000 Flüchtlinge folgten dem Aufruf und durchquerten einen reissenden Grenzfluss. Drei Menschen ertranken. Wer es nach Mazedonien schaffte, wurde umgehend nach Griechenland zurückgeschafft.