Es ist Samstag, kurz nach 22 Uhr. Zwölf Tage nach dem Terroranschlag von Manchester. Auf einer Riesenleinwand am Ende der Piazza San Carlo läuft das Spiel Juventus gegen Real Madrid, das im englischen Cardiff ausgetragen wird. Es steht vier zu eins für die Spanier. Die Stimmung im Zentrum von Turin (I) kippt.
Etwa 100 italienische Ultras beginnen rechts vom Maxi-Screen zu randalieren. Sie zünden Knallkörper. «Eine Bombe, eine Bombe", schreit jemand. Andere glauben an Kalashnikov-Salven. So mancher will «Allahu Akbar» gehört haben.
Ist der Mann mit dem nackten Oberkörper ein Attentäter?
Und da steht plötzlich dieser junge Mann mitten auf dem Platz. Nackter Oberkörper. Schwarzer Rucksack. Die Arme ausgebreitet gen Himmel. Ein Sprengstoff-Attentäter?
Rund 30 000 Fans packt die blanke Angst. In Panik rennen sie zu den Ausgängen, drängen gegen die Absperrungen. Viele verlieren bei der Flucht ihre Schuhe. Sie treten in zerbrochene Bier- und Weinflaschen. Andere stolpern, werden niedergetrampelt.
Auch der kleine Kelvin (7) fällt und wird förmlich von der Masse in Panik zertreten. Der chinesische Bub erleidet schwere Kopfverletzungen. Lungen und Leber sind gequetscht. Er liegt im künstlichen Koma. Noch immer kämpfen die Chirurgen vom Spital Regina Margherita um sein Leben.
Die Piazza glich einem Scherbenteppich
«Auf dem Platz wurden massenhaft Glasflaschen verkauft», erzählt ein Augenzeuge der Zeitung La Stampa, «die Piazza glich einem Scherbenteppich. Ich habe gesehen wie Menschen stürzten und sich die Haut aufschnitten. Überall war Blut.»
Glasflaschen sind verboten beim Public Viewing. Dennoch schmuggeln Dutzende von illegalen Händler Bier und Wein auf den Platz. Auch Feuerwerkskörper und Rauchbomben werden illegal gezündet. Wie kamen die durch die Kontrollen? Veranstalter Torino Turismo steht in der Kritik.
Kein Terroranschlag auf der Piazza San Carlo
Viele der Fussball-Fans suchen Zuflucht in den Häuser am Platz. «Lasst uns zusammen bleiben», ruft jemand aus der Menge. Kinder klammern sich an ihre Väter. Doch viele der Kleinen gehen in der Massenpanik verloren. Polizei ruft über Megaphone Namen über den Platz. Namen verlorener Eltern, verlorener Kinder.
Was war passiert auf der Piazza San Carlo? Die Ermittlungen laufen auf Hochtouren. Eines steht schon sehr früh fest: Ein Terror-Anschlag war es nicht. Was also löste die Massenpanik aus?
Sonntag, um vier Uhr morgens wird Davide aus der Lombardei vernommen. Er ist der Bursche mit dem nackten Oberkörper und dem schwarzen Rucksack, der «Attentäter». Doch die Staatsanwaltschaft lässt den Italiener wieder laufen. «Ich habe nichts gemacht», so der Fussball-Fan.