Etwas verwundert schaut das Pärchen mit den Walking-Stöcken dem Reitpaar entgegen. Ist das nicht eine ...? Ja, es ist eine Kuh, geritten von Anne Wiltafsky. Die Reiterin lenkt das zweijährige Limousin-Rind den Feldweg entlang. Das Pärchen walkt lächelnd und grüssend vorbei. Anne Wiltafsky ist Trainerin in der ersten Kuhschule der Schweiz und Medea ein ehemaliges Schlachtkälbchen auf dem besten Weg zur Reit- und Freizeitkuh.
Heute allerdings hat Medea nicht besondere Lust, ausgeritten zu werden. Nach ein paar Schritten hält sie an, dreht den Kopf zur Reiterin und verlangt eine Belohnung. Es gibt eine Scheibe Zwieback. «Der Spassfaktor ist bei Kühen extrem wichtig», sagt Anne Wiltafsky. «Sie machen nur, was ihnen gefällt.» Damit Medea das Beritten-Werden in guter Erinnerung behält, bricht die Kuhtrainerin den Ausritt ab und kehrt zum Stall zurück.
Diese Idee scheint Medea zu behagen. Mit ausgestreckten Schritten zieht die Kuh dem Hof Stockengut in Kilchberg ZH entgegen, die Huf- respektive Klaueneisen klacken auf dem Boden. Wiltafsky – die langen blonden Haare zum Zopf gebunden, Schirmmütze, Jackett und Cordhose – wiegt mit den Bewegungen der Kuh.
Die 34-jährige Deutsche, seit kurzem Mutter einer Tochter, ist eigentlich Philosophin. Ihre Grossmutter betrieb einen Ponyhof, die Eltern trainierten in ihrer Freizeit Schafe, Ziegen und Rinder. Und so fand auch Anne zu Pferden und Rindern. Richtig auf die Kuh gekommen ist sie schliesslich in der Schweiz.
Als sie vor drei Jahren mit ihrem Mann, der als Physiker eine Arbeitsstelle in der Schweiz fand, nach Adliswil ZH zog, suchte sie sich als Erstes einen Bauernhof mit Kühen. Sie fand das Stockengut, dessen Bewirtschafter Wiltafsky mit den Masttieren arbeiten liessen. Im August 2008 eröffnete sie offiziell die Kuhschule.
Hier macht sie nicht nur Nutztiere zu Freizeittieren, sondern bietet auch Kindern an, Kühe zu striegeln, Kälber zu führen, mit Ochsen auszufahren oder Rinder zu reiten. Einnahmen und Ausgaben halten sich die Waage. Der Reiz liegt anderswo: «Ich will zeigen, dass Kühe genauso viel können wie Pferde.» In mancher Hinsicht biete eine Kuh sogar noch mehr: «Treue, wie ich sie bei Pferden nie erlebt habe.»
Und die Philosophie? «Die finde ich auch bei den Kühen», sagt sie und lacht. «Ihre Art, das Leben mit Gelassenheit und Ruhe anzugehen, erinnert mich an Konfuzius und die Stoiker.» Faszinierend sei auch, wie es sich Kühe stets leisten, noch einmal über etwas nachzudenken. «Bei Gefahr flieht ein Pferd sofort. Die Kuh schaut sich die Sache an und überlegt sich zuerst, ob sie wegrennen oder sich verteidigen soll.»
Jetzt geht es mit Steffie weiter, einem vier Monate alten Kalb. Gleich nach seiner Geburt hatte Wiltafsky es trocken gerieben, massiert und an eine ruhige Stimme gewöhnt. So würden sich die Tiere ein Leben lang an die Laute erinnern. Steffie wird nun ausgiebig gebürstet – was sie, die Ohren zur Seite gelegt, zu geniessen scheint. Beim Striegeln gehe es nicht um Sauberkeit, sondern um Beziehungspflege. Auch Hufe respektive Klauen geben kann Steffie wie ein Reitpony.
Die Lehrerin möchte heute mit ihrer Schülerin Treppen steigen und Hindernisse springen, sofern diese mit ihren Plänen einverstanden ist. Auf dem Weg zur Treppe möchte sie jedoch lieber vor dem Eselgehege stehen bleiben. Mit einem Zwieback lässt sie sich umstimmen. Elegant und selbstsicher steigt das Kalb die 24 steilen Betonstufen hoch, lässt sich auch durch das Klicken des Fotoapparats nicht aus der Ruhe bringen.
Jetzt ist das Tier so richtig in Fahrt. Kaum auf dem Sandplatz angekommen, trabt es aufgeregt hinter seiner Trainerin her. Diese springt über eine 50 Zentimeter hohe Stange, Steffie nach ein paar Bocksprüngen hinterher. Sechsmal findet sie daran Gefallen, dann bleibt sie gelangweilt stehen. Wiltafsky ändert das Programm und übt die Kommandos, links und rechts sowie zwischen Stangen durchzugehen.
Bis nächsten Frühling hat die Kuhtrainerin Zeit, Steffie zu einem Freizeitrind mit besonderen Fähigkeiten auszubilden. Dann ist Schlachttermin. «Diese Deadline habe ich bei den meisten Tieren, die ich ausbilde», sagt Wiltafsky. Letztes Jahr konnten jedoch alle verkauft werden: als Show-, Kuschel- oder Kutschenziehkuh.
Die Schwalben ziehen in Schwärmen über die Dächer des Stockenguts, während die Sonne hinter dem Üetliberg versinkt. In der Ferne rauscht die Autobahn. Frühmorgens oder abends ist Anne Wiltafsky bei den zehn Rindern ihrer Kuhschule. Täglicher Kontakt sei wichtig, damit sie die aktuellen Rangordnungskämpfe innerhalb der Gruppe mitbekomme und entsprechend reagieren könne.
Die Kuhtrainerin bringt Steffie zurück in den Stall, streicht ihr nochmals über Hals und Flanke, hängt das Halfter an den Nagel. «Ich bin nicht freakig, wie einige Leute meinen», sagt sie. «Was ich mache, ist eine vergessene Arbeitskultur. Bevor es den Traktor gab, haben Bauern Kühe und Ochsen ausgebildet, um sie einzuspannen und die Felder zu pflügen.» Doch weil dies so selbstverständlich zum Bauerndasein gehört hatte, habe niemand die Trainingsmethoden dokumentiert. Wiltafsky sammelt deshalb Literatur und Bildmaterial aus verschiedenen Ländern, hält ihr eigenes Vorgehen fest und steht mit Rinderausbildern aus der ganzen Welt in Kontakt.
Für heute ist Schluss. Morgen wird sie mit Onyx und einigen Hundebesitzern arbeiten. Die Hunde klettern der Kuh auf den Rücken und springen wieder runter. Eine ideale Aufgabe für das Tier. Denn die zweijährige beige-rote Kuhdame ist zu träge zum Reiten und Springen. Deren Coolness möchte Wiltafsky für ein Theaterprojekt nutzen, das Stück schreibt sie selber. Für Onyx gäbe es selbstverständlich eine Hauptrolle.