Kriegspsychologe über die traumatisierte Generation in Gaza
«Kinder wachsen in einem emotional belasteten Klima auf»

Thomas Elbert (75) hat jahrzehntelang zu Menschen mit Kriegstraumata geforscht. Gaza sei ein Extremfall, sagt der Konstanzer Psychologe. Seine Prognose: Viele junge Gaza-Bewohner werden unverschuldet Gefallen finden an Gewalt und blutigen Auseinandersetzungen.
Publiziert: 10:38 Uhr
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Aktualisiert: vor 52 Minuten
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Der Krieg mag enden, das Trauma bleibt: Ein Drittel der Kinder wird ein Leben lang Albträume haben, sagt Kriegspsychologe Thomas Elbert.
Foto: AFP

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Samuel SchumacherAusland-Reporter

Der Deal steht, Israel wartet hoffnungsvoll auf die Rückkehr seiner Geiseln, und in Gaza ziehen hungrige Karawanen zurück in Richtung ihrer zerstörten Städte. Während weltweit die Glocken läuten für den Frieden und die Korken knallen vor Freude über das vorläufige Ende des Kriegs, droht in Gaza eine unsichtbare Gefahr.

Ein Drittel der Million Kinder werde ein Leben lang an Albträumen leiden und ein weiteres Drittel sich nur eingeschränkt entwickeln, sagt der Konstanzer Kriegspsychologe Thomas Elbert (75) mit Blick auf die schwer traumatisierte Bevölkerung. «Am ehesten werden die Kämpfer unter den Kindern ihre Funktionstüchtigkeit aufrechterhalten oder sogar steigern können.» Seine Prognose für Gaza ist dramatisch.

Elbert hat unter anderem in Somalia, Afghanistan und im Kongo Feldforschung zu traumatisierten Gewaltopfern betrieben. Die Situation im schmalen Küstenstreifen erachtet er als Extremfall. 90 Prozent der 2,1 Millionen Gaza-Bewohner wurden während des Krieges aus ihren Wohnungen vertrieben.

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Der Krieg mag enden, das Trauma bleibt: Ein Drittel der Kinder wird ein Leben lang Albträume haben, sagt Kriegspsychologe Thomas Elbert.
Foto: AFP

67'173 Menschen verloren bei den israelischen Angriffen laut Angaben der Gesundheitsbehörden in Gaza ihr Leben, nebst vielen Hamas-Kämpfern auch mehr als 20'000 Kinder und 10'400 Frauen. 170'000 Menschen trugen teils schwere Verletzungen davon. Mehrere Tausend liegen mutmasslich noch immer zerquetscht unter den Trümmern.

Gefährliche Kampfeslust

«Die Menschen in Gaza sind dauerhaft einer Bedrohung ausgesetzt. Sie sind von Kindesbeinen an ständig auf der Hut vor dem nächsten Schlag», sagt Elbert zu Blick. Insbesondere junge Männer, die schon als Jugendliche Zeugen von Gewaltakten werden oder sich gar daran beteiligten, würden eine «Attraktion für den Kampf, für blutige Auseinandersetzungen» entwickeln.

«Das lässt sich später nicht ohne weiteres löschen.» Allenfalls, sagt der Kriegspsychologe, könne man das Ziel dieser Lust am Kampf verändern. Statt auf den Kampf gegeneinander könnte man seine Energie beispielsweise auf den Kampf für eine prosperierende Gesellschaft umleiten. Einfach ist das nicht.

Einer der grossen Schwachpunkte der Gesellschaft in Gaza – aus rein traumatologischer Sicht – ist die grosse Anzahl Kinder und Jugendlicher. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist noch keine 18 Jahre alt. Sie alle, schreibt die Uno, brauchen dringend psychologische Unterstützung. Und natürlich brauchen sie Zugang zu Bildung. 95 Prozent der Schulgebäude sind laut der Uno zerstört, mehr als 650'000 Kinder haben seit zwei Jahren keinen Unterricht mehr besuchen können.

Zu diesem Elend kommt laut Kriegspsychologe Elbert das «transgenerationale Trauma» hinzu. Durch den Krieg traumatisierte Eltern seien in ihrer Beziehungsfähigkeit und ihrem Bildungsverhalten gegenüber den Kindern stark gestört. Sie hätten Mühe, ihre Gefühle zu regulieren. «Die Kinder wachsen in einem emotional belasteten Klima auf und übernehmen die Muster von Angst und Misstrauen.»

So reagiert das Gehirn auf den Krieg

Extreme Traumata, wie sie die Menschen in Gaza verarbeiten müssen, hätten zudem neurologische Folgen. «Traumatisierte Kinder entwickeln im Gehirn ein Immunsystem, das an bedrohliche Umwelten angepasst ist.» Zu diesem «Immunsystem» gehöre eine «omnipräsente Gewaltbereitschaft», erklärt Thomas Elbert. Sie diene primär der Verteidigung, könne aber früher oder später in angriffiges Verhalten übergehen.

Der Krieg mag enden, seine Folgen aber verschwinden nicht. Der Hass bleibt, die Angst auch. Der Angriff – ob nun neurologisch bedingt oder als Ausdruck der gefühlten Kampfeslust – bleibt als Modus Operandi in den Köpfen des geschundenen Volkes verankert.

Diese schlummernde, unsichtbare Gefahr zu beseitigen, ist schwierig. Insbesondere im noch immer extrem isolierten Gazastreifen, wo nach zwei Jahren Krieg nur noch knapp ein Drittel der Spitäler überhaupt offen ist und wo Hunderttausende noch nicht einmal wissen, wo sie die nächste Nacht schlafen und was sie in den nächsten Stunden essen sollen. Psychologische Hilfe – so wichtig sie wäre – steht da weit unten auf der Prioritätenliste.

Schuldzuweisungen sind kontraproduktiv

Die Betroffenen müssten in die Lage versetzt werden, sich selbst zu helfen, sagt Kriegspsychologe Elbert. «Wichtig ist, nicht nur zu fragen, wo was geschehen ist, sondern was die Betroffenen dabei dachten und gefühlt hatten, wie ihre körperlichen Systeme kurz- und langfristig reagiert haben», sagt Elbert. Ganz wichtig: «Eine Verurteilung einer Seite samt Schuldzuweisungen ist kontraproduktiv.»

Organisationen wie das von ihm mitgegründete Fachkräftebündnis Vivo international, das in Gaza Heilungsprojekte für Kinder unterstützt, seien aufgrund der fehlenden lokalen Ressourcen jetzt zentral, sagt Thomas Elbert. Hält die Waffenruhe, können diese Organisationen in Gaza ihre Arbeit bald wieder aufnehmen.

Es wäre ein wichtiges Zeichen für all jene Menschen, für die Donald Trumps (79) Friedensdeal nicht das Ende des Kriegsleidens bedeutet, sondern bloss einen ersten Schritt auf einem schier endlos scheinenden Weg zurück in die Normalität. 

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