Bevor Russland in die Ukraine einmarschierte, lebten in der ostukrainischen Stadt Tschassiw Jar rund 13'000 Menschen. Inzwischen sind es nur noch 700. Sie weigern sich, Evakuierungsaufrufen zu folgen. Und das, obwohl gemäss der örtlichen Militärverwaltung jedes einzelne Gebäude beschädigt wurde. Zudem spielen sich tagtäglich heftige Kämpfe ab.
Laut dem ukrainischen Armeechef Olexander Sirski (58) plant Russland, die Stadt noch bis zum 9. Mai einzunehmen. Dann wird in Russland der «Tag des Sieges» gefeiert. Dieser markiert die Kapitulation der Nazis. Ob den Russen der Sieg bis dahin tatsächlich gelingen wird, bleibt unklar. Gut sieht es für die Ukraine allerdings nicht aus.
«Die Russen schiessen mit allem, was sie haben»
Tschassiw Jar ist rund 20 Kilometer von Bachmut entfernt. Dort musste die ukrainische Armee einen entscheidenden Verlust gegen Putins Armee hinnehmen. Die Stadt mit einst 73'000 Einwohnern wurde von den Russen besetzt.
Artillerist Ihor kämpfte in beiden Städten gegen die Russen, wie er der Nachrichtenagentur AFP erzählt. Die Kämpfe in Bachmut waren allerdings nicht so hart wie das, was sich aktuell in Tschassiw Jar abspielt: «In Bachmut war ich sicherer, denn dort gab es Gebäude und Platz, um sich zu verstecken. Wir haben unsere Aufgabe erledigt und konnten dann irgendwo hineingehen. Hier rennen wir, während russische Drohnen über uns fliegen.»
Das bestätigt auch Oles Maljarewitsch, Vizekommandeur der 92. Spezialsturmbrigade, die in Tschassiw Jar im Einsatz steht: «Die Russen stürmen rund um die Uhr und schiessen mit allem, was sie haben.» Demnach greife die russische Armee mit Dutzenden Gefechtsformationen gleichzeitig an, was die Kämpfe erschwere.
Stadt für Russland strategisch wichtig
Auch der ukrainische Armeechef ist besorgt. Am Samstag erklärte Sirski, dass sich die Situation an der Ostfront «erheblich» verschlechtert habe. Moskau versuche mit aller Macht, die Verteidigungslinien der Ukrainer zu durchbrechen, um die Stadt einzunehmen – mit Artilleriedauerfeuer und tonnenschweren Gleitbomben.
Gemäss Oleksandr Kowalenko, Sicherheitsexperte am Kiewer Dmytro-Tymchuk-Zentrum, ist die Stadt für Russland strategisch wichtig. Denn die Kontrolle über Tschassiw Jar würde es der Armee ermöglichen, in das zehn Kilometer entfernte Kostjantyniwka weiterzuziehen. Von der 70'000-Einwohner Stadt aus können die Russen wiederum Richtung Druschkiwka und Kramatorsk vordringen.
Um das zu verhindern, brauchen die Ukrainer laut Kowalenko vor allem eins: Munition. «Wir sind immer noch von der Versorgung mit Artillerie und Munition abhängig, um die ständigen russischen Wellenangriffe stoppen zu können.» Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski (46) bittet westliche Länder deshalb schon seit Monaten immer wieder um erneute militärische Unterstützung. (mrs)