Historiker Heinrich August Winkler über die Präsidentenwahl in Frankreich und die Zukunft von Marine Le Pen
«Scheitert Macron, ist dies das Ende von EU und Euro»

Europa ist erleichtert über den Wahlsieg von Emmanuel Macron. Scheitert er jedoch, könnte Le Pen die nächste Präsidentin sein. Das hätte dramatische Folgen für die deutsch-französische Freundschaft.
Publiziert: 09.05.2017 um 15:25 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 16:52 Uhr
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Kleineres Übel: Die Franzosen wählten ihn eher aus Vernunftsgründen denn aus grosser Liebe: Emmanuel Macron.
Foto: Jeff J Mitchell
René Lüchinger

BLICK: Wie interpretieren Sie die französischen Präsidentschaftswahlen?
Heinrich August Winkler:
Ich habe mit einem Erfolg von Macron gerechnet, aber nicht in dieser Eindeutigkeit. Besorgniserregend ist aber trotzdem, dass sich rund ein Drittel der wählenden Franzosen für die Kandidatin des rechtsextremen Front National entschieden hat. Beunruhigend ist auch die hohe Zahl der Nichtwähler und der ungültigen Stimmen.

Eine überzeugende Unterstützung sieht anders aus.
Für viele ist ein Präsident Macron nur das kleinere Übel. Dies hat der nun Gewählte in seiner Rede vor dem Louvre anerkannt und versprochen, sich auch um diese Wählerkreise zu kümmern.

Was bedeutet das Resultat für die deutsch-französische Freundschaft, für die EU?
Für liberal denkende Europäer ist der Sieg von Macron ein Grund zu grosser Erleichterung. In den vergangenen fünf Jahren hat das deutsch-französische Tandem immer wieder stark gestottert. Der Vorgänger François Hollande kam mit seinen Reformen nur mühsam voran, weil seine Partei durch den Gegensatz von reformerischen Sozialdemokraten und doktrinären Sozialisten gelähmt war. Macron ist ein erklärter Reformer, ein überzeugter Sozialliberaler. So besteht die Aussicht, dass es unter Macron wieder zu einer engeren deutsch-französischen Zusammenarbeit kommt. Das gilt insbesondere für eine neue deutsch-französische Formel für ein angemessenes Verhältnis von nachhaltigem Wirtschaftswachstum und Haushaltskonsolidierung. Wichtig ist, dass der neue Präsident bei den kommenden Wahlen zur Nationalversammlung eine arbeitsfähige parlamentarische Mehrheit erhält.

Wirtschaftspolitisch ist Macron ein Keynesianer, der auf staatliche Investitionsprogramme setzt. Ist es das, was Frankreich und Europa nun braucht?
Manches, was er im Wahlkampf verkündet hat, wird nun Gegenstand harter und kontroverser deutsch-französischer Debatten. Und wenn ich von seinen liberalen Positionen spreche, meine ich seine Absicht für Strukturreformen: die 35-Stunden-Woche zu lockern, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren, den öffentlichen Dienst zu reduzieren. 

Das würde auch Deutschland unterschreiben. Anderes nicht.
Alles, was in Richtung Schulden-Union geht, wird in Berlin keine Zustimmung finden. Gemeinsame europäische Projekte, etwa zur Reduktion der Jugendarbeitslosigkeit, aber sehr wohl. Denn klar ist auch: Scheitert Macron, steigen die Chancen für einen Wahlsieg von Marine Le Pen bei den nächsten Präsidentenwahlen. Und das wäre das Ende von Euro und EU.

Die deutsch-französische Freundschaft ist also zur Schicksalsgemeinschaft geworden.
Das war schon immer so seit die Europäische Gemeinschaft existiert. Die Zusammenarbeit der beiden grössten Volkswirtschaften der EU bekommt vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse und dem Brexit jedoch eine viel existenziellere Bedeutung als in den vergangenen zehn Jahren.

Ist das Berlin bewusst, unabhängig davon, welche Partei den nächsten Kanzler stellt?
Da herrscht unter den verantwortlichen politischen Kräften weitgehender Konsens.

Dennoch ist der Sieg Macrons eine Zäsur.
Das traditionelle französische Parteiensystem, wie wir es kennen, ist faktisch mit dem ersten Wahlgang zusammengebrochen. Ich halte eine Spaltung der sozialistischen Partei in Reformer und Dogmatiker für möglich, ja wahrscheinlich. Erstere werden sich wohl als eigene Partei konstituieren oder sich einer reorganisierten «En Marche»-Partei Macrons anschliessen. Bei den konservativen Republikanern sind Abspaltungen nach rechts Richtung Le Pen ebenso denkbar. Als Resultat der Wahlen zur Nationalversammlung ist deshalb eine Koalitionsregierung wahrscheinlich, an der sich Sozialdemokraten wie Konservative beteiligen. Das wäre für Frankreich eine ganz neue, ja überfällige Erfahrung. 

Heinrich August Winkler, 78, emeritierter Professor für Neuere und Neueste Geschichte, gehört zu den einflussreichsten deutschen Historikern seiner Generation. Ende August erscheint bei C. H. Beck sein neues Buch «Zerbricht der Westen? Über die Krise der Gegenwart in Europa und Amerika».

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