Hat ein Jude Anne Frank verraten?
Jetzt zerpflückt Autor Leon de Winter die aufsehenerregende These

Am Montag wurde eine Buch zum Verräter von Anne Frank veröffentlicht. Es soll ein jüdischer Notar gewesen sein. Der Autor und Filmregisseur Leon de Winter findet klare Worte: «Das Buch ist ein Verbrechen».
Publiziert: 21.01.2022 um 17:07 Uhr
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Aktualisiert: 21.01.2022 um 22:22 Uhr
Der niederländische Schriftsteller Leon de Winter schiesst scharf gegen ein Untersuchungsteam.
Foto: teutopress
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Die Nachricht schlug am Montag hohe Wellen: Das Versteck von Anne Frank und ihrer Familie vor den Nationalsozialisten in Amsterdam soll neuen Untersuchungen zufolge sehr wahrscheinlich von einem Notar verraten worden sein. Dieser war selbst jüdisch und soll in der Hoffnung gehandelt haben, mit dem Verrat seine Familie zu retten. Fünf Jahre lang hatte ein internationales Team unter der Leitung des niederländischen Filmemachers Thijs Bayens den Fall mit den neuesten Techniken untersucht, als Hauptbeweis gilt eine Kopie eines anonymen Briefs.

Die Kritik an der Recherche und dem daraus entstandenen Buch «The Betrayal of Anne Frank» liess nicht lange auf sich warten. Bereits am Dienstag mahnten Historiker zur Vorsicht. Auch der niederländische Autor Leon de Winter (67) äussert sich nun empört in der «NZZ».

Autor hinterfragt Genauigkeit der Recherche

De Winter, Sohn eines orthodoxen Juden, der den Holocaust überlebte, findet klare Worte für die Ergebnisse des Untersuchungsteams: «Das Buch selber ist ein Verbrechen», schreibt er in der Zeitung. Es schiebe die Schuld am «grausamen Tod» von Anne Frank «einem unschuldigen Juden» in die Schuhe, so de Winter.

Der Mann, von dem gesprochen wird, ist der jüdische Notar Arnold van den Bergh. Er war Mitglied des Judenrats, einer Gruppe von jüdischen Würdenträgern, die davon ausgingen, dass es besser sei, mit den Nationalsozialisten zu kooperieren, als sich ihnen zu widersetzen.

Der Autor hinterfragt zudem die Genauigkeit der Recherche, denn: Der besagte Brief wurde von einem Holocaust-Forschenden bereits Jahre zuvor als wertlos eingestuft. Das Untersuchungsteam stellte jedoch eine Verbindung zwischen dem Brief und einer Aussage eines Militärübersetzers her. Dieser behauptete, er habe mitbekommen, wie der Judenrat der deutschen Feldgendarmerie eine Liste mit gegen tausend jüdischen Verstecken übergeben habe.

«Wie hat der Judenrat diese Adressen gesammelt? Der Rat hatte Juden davon abgehalten, unterzutauchen, und wurde darum von vielen, vor allem aber von den untergetauchten Juden, wenig respektiert», so de Winter. Er zitiert den Historiker Bart van der Boom, der dem Team Bayens widerspricht. Die Zeugenaussagen aus dieser Zeit seien «notorisch unzuverlässig». Der in dem Buch zitierte Übersetzer sei einer von vielen Lügnern, so van der Boom.

Historiker kritisieren «dünne Beweislage»

Für de Winter ist die Aussage des Buches nicht haltbar: «Vor den Augen der ganzen Welt, basierend auf nichts als dünner Luft, wird nun ein Jude zum Verräter des ikonischen Gesichts des Holocausts gemacht. Es gibt keinen faktischen Beweis für van den Berghs Verrat». De Winter ist sich sicher: «Die Arbeit des Teams war teuer, und der amerikanische Verlag, der es finanzierte, brauchte einen Schuldigen. Es wurde ein Jude». Für ihn hat das Team um Filmemacher Bayens versagt.

Die Beweislage sei sehr dünn, sagte auch der Amsterdamer Professor für Holocaust- und Genozidstudien, Johannes Houwink ten Cate, am Dienstag im «NRC Handelsblad». «Zu grossen Beschuldigungen gehören grosse Beweise. Und die gibt es nicht».

Historiker aus aller Welt sehen kein Motiv bei dem Notar. Er sei bereits selbst im Sommer 1944 mit seiner Familie wegen drohender Deportation untergetaucht. Mit einer Anzeige beim Sicherheitsdienst hätte der Notar nach Darstellung der Historiker nur die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. Thijs Bayens selbst hat sich bisher nicht zu den Vorwürfen geäussert. (chs)

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