Grossbritannien zündet trotz grassierender Delta-Variante den Öffnungsturbo
Diesmal geht Johnson keine zynische Wette ein

Die Zahl der Neuinfektionen ist zwar so hoch wie fast nirgends, dennoch werden am 19. Juli in England die Corona-Massnahmen aufgehoben. Blick erklärt den umstrittenen Weg von Premierminister Boris Johnson.
Publiziert: 07.07.2021 um 15:41 Uhr
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Schon am 2. Mai fand in Liverpool ein Festival ohne Massnahmen statt, um die Auswirkungen zu untersuchen.
Foto: keystone-sda.ch

Der kommende 19. Juli wird in England als «Tag der Freiheit» gefeiert. Premierminister Boris Johnson (57) hat angekündigt, dass er dann alle Corona-Massnahmen abschaffen und den Alltag zurückholen wolle. Ursprünglich hätte der «Freedom Day» am 21. Juni stattfinden sollen, er wurde dann aber wegen der neuen Delta-Mutation verschoben.

Schon in zehn Tagen werden also Abstandsregeln aufgehoben, die Maskenpflicht fällt, Clubs öffnen die Türen, Konzerthallen und Fussballstadien werden wieder voll bis auf den letzten Platz sein.

Und das, obwohl sich allein am Dienstag über 28'000 Menschen infiziert haben – so viele wie fast nirgends sonst in Europa. Und das auch, obwohl die britische Regierung in den kommenden Wochen mit 50'000 Neuinfektionen täglich rechnet.

Schottland, Wales und Nordirland werden vermutlich im August nachziehen. Sie können autonom über ihre Gesundheitspolitik entscheiden.

Grosse Entrüstung

Die Entrüstung vielerorts ist gross. Es sei besorgniserregend, dass Johnson die Lockerungen «mit Vollgas» durchsetze, sagte der Chef der Ärztevereinigung BMA, Chaand Nagpaul. Oppositionsführer Keir Starmer (58) von der Labour-Partei nannte Johnsons Pläne «rücksichtslos».

Doch anders noch als am Anfang der Pandemie, als Johnson das Coronavirus lange verharmlost hatte, geht er diesmal keine zynische Wette ein: Die Gelegenheit zur Öffnung sei jetzt günstig wie nie, so der Premierminister. Der Grund: Zwar hat sich die Zahl der Covid-Infizierten seit Mai etwa verzehnfacht, aber im Gegensatz zu vorher müssen die Betroffenen nicht mehr massenweise die Spitäler aufsuchen. Zurzeit werden dort nur rund 1900 Patientinnen und Patienten behandelt.

Auch ist die Todesrate konstant geblieben: Von Mittwoch bis Donnerstag starben in Grossbritannien neun Personen an oder mit dem Virus. Höhere Infektionszahlen bedeutet also nicht mehr höhere Todeszahlen.

Eine Todesart unter vielen

Covid-19 ist in Grossbritannien seit längerem nur noch eine Todesart unter vielen. Wie der «Spiegel» schreibt, starben im Mai insgesamt 35'401 Menschen im Land – darunter 3780 an Herzversagen, 3711 an Demenz und 1012 an Grippe oder Lungenentzündung. Covid-19 rangierte mit 355 Todesfällen auf Platz 24.

Der entscheidende Faktor in Grossbritannien ist die Impfoffensive, die Johnson angetrieben hatte. Rund 86 Prozent der Erwachsenen haben wenigstens die erste Dosis erhalten. Die aktuellen Neuinfektionen betreffen vor allem junge Menschen, bei denen schwere Komplikationen nur selten auftreten.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Johnson sagte am Montag, dass es eine Verschiebung des «Freedom Day» nicht geben werde. Zwar sei die Pandemie noch lange nicht vorbei und Menschen würden weiter am Virus sterben. Aber man müsse ehrlich sein: «In den kommenden Wochen werden uns der Sommer und die Schulferien helfen – wenn wir unsere Gesellschaft jetzt nicht wieder öffnen, wann wollen wir dann jemals zur Normalität zurückkehren?» Es sei Zeit, «mit dem Virus zu leben».

Johnson setzt auch auf die Eigenverantwortung der Briten. So solle man weiterhin Hygienemassnahmen befolgen. Er selber werde weiterhin an stark belebten Orten eine Maske tragen, das sei «ein Gebot der Höflichkeit».

Johnson bekommt Support von seinem Gesundheitsminister Sajid Javid (51). Der glaubt, dass der «Verteidigungswall», den das Land mit Millionen Impfdosen aufgebaut hat, auch nach dem 19. Juli halten werde. Javid sagt über den Zeitpunkt der Rückkehr zum Alltag zudem: «Zur Wahrheit gehört auch, dass kein Datum ohne Risiko ist.» (gf)

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