Wie fast überall auf der Welt führte Anfang 2020 auch Finnland für die Schulen den Fernunterricht ein. Warum auf diese Weise vor der Repatriierung nicht auch gleich die Kinder von IS-Kämpfern und Finninnen im Flüchtlingscamp Al-Hol in Syrien unterrichten? Die Idee des finnischen Syrien-Beauftragen Jussi Tanner stiess im finnischen Bildungsministerium auf Begeisterung.
Die Lehrerin für das Projekt war schnell gefunden: Die in Espoo bei Helsinki lebende Ilona Taimela (51) von der Stiftung für lebenslanges Lernen hat sich in ihrem Land mit ihrem Engagement für multikulturelles Lernen einen Namen gemacht. Sie hat als Kind in Tansania und andern Ländern gewohnt, wo ihr Vater lokale Dialekte erforschte. Heute berät sie Gemeinden im Umgang mit Kindern aus verschiedenen Kulturen.
23 Kinder in einer Klasse
Im April 2020 fragte Ilona Taimela im Camp lebende Finninnen in einem Brief, ob sie an einer Ausbildung ihrer Kinder interessiert wären. Tanner überreichte die Briefe den Frauen heimlich, denn vom Projekt durfte weder jemand im Lager noch in Finnland etwas erfahren. Ilona Taimela sagt zu Blick: «Zu gross wäre die Gefahr gewesen, dass die Familien oder auch ich selber wegen Handybesitzes oder des westlichen Unterrichts bedroht worden wären.»
Die Anfrage stiess auf grosses Echo. Von den 30 finnischen Kindern im Camp kam eine Klasse von 23 Kindern zusammen. Sie waren zwischen 2 und 19 Jahre alt und verwendeten aus Furcht vor Konsequenzen teilweise Pseudonyme. Ilona Taimela selber nannte sich stets «Saara».
Täglich Hunderte Nachrichten
Der Unterricht begann nach einer drei Wochen dauernden Vorbereitungsphase am 7. Mai 2021. «Hei, ich bin Saara, und ich bin schon lange Lehrerin», schrieb Ilona Taimela in ihrem ersten Whatsapp. Täglich versandte sie mehrere Hundert Nachrichten und Sprachmeldungen an die Kinder, die sie in vier Niveaus eingeteilt hatte.
«Zuerst bat ich die Mütter, mit ihren Kindern Finnisch zu sprechen», berichtet Ilona Taimela. Sie nahm auch Geschichten und Gedichte auf, um die Kinder ans Finnische zu gewöhnen. Mit kleinen Texten erzählte sie den Schülerinnen und Schülern, dass Finnland früher unter der Herrschaft von Schweden und Russland gestanden hatte. Um die Kleinen an die Zahlen und ans Rechnen heranzuführen, verwendetet sie oft Emojis.
Im Geografieunterricht zeigte sie ihnen die Länder und deren Besonderheiten. Auch die Aktualität wurde behandelt. Ilona Taimela: «Als die USA ihren Präsidenten wählten, machte ich Biden und Trump zum Thema.»
Väter waren IS-Kämpfer
Durch die Medien hatte Ilona Taimela viel über das überfüllte Camp mitbekommen. Durch den täglichen Kontakt erfuhr sie noch viel mehr über Einzelschicksale. «Sie berichteten mir von ihren Krankheiten, wenn der Sturm ihr Zelt weggeweht hatte, von ihrer Angst vor den Soldaten und dass sie ihre Handys verstecken mussten.» Nur ein Thema blieb tabu: ihre Zeit vor dem Camp.
Die Kinder stammten von IS-Kämpfern, deren Aufenthalt heute unbekannt ist. «Teilweise sind sie wohl getötet worden oder leben in Gefängnissen», sagt Taimela. Bei den Müttern handelt es sich um konvertierte Finninnen oder in Finnland aufgewachsene Migrantinnen, die sich dem IS angeschlossen hatten.
Der Unterricht wurde im März dieses Jahres eingestellt, nachdem Finnland mit der Repatriierung begonnen hatte. Einige Kinder hat sie getroffen. «Sie waren zuerst sehr scheu, denn sie sind traumatisiert. Nachdem sie aber meine Stimme erkannt hatten, wurden sie offener und kamen mir sogar auf den Schoss, als ich ihnen eine Geschichte vorlas.»
Erfreuliche Fortschritte
In Finnland werden die Kinder der IS-Kämpfer und finnischen Mütter normalen Unterricht geniessen. Zudem werden sie betreut – wie auch ihre Mütter, die mit einer extremen Ideologie losgezogen waren.
Ilona Taimela ist davon überzeugt, dass sie den Kindern mit ihrem Unterricht etwas auf den Lebensweg geben konnte. «Sie haben Freude am Lernen gefunden. Und dank der oft lustigen Geschichten, die ich ihnen gesendet habe, konnten sie wieder lachen.» Besonderen Eindruck machte ihr ein sechsjähriges Kind, das nun sogar ganze Texte lesen kann.
Das Projekt Syrien ist vorerst beendet. Ausser von extremen christlichen Kreisen habe es keine Reaktionen gegeben. «Nun bereite ich mich vor, um Lehrerinnen und Lehrer in Palästina zu unterrichten», sagt Ilona Taimela. Auch Projekte in Myanmar und Afghanistan fasst sie ins Auge. Denn für die passionierte Pädagogin ist eines klar: «Ich habe heimlich IS-Kinder unterrichtet. Aber wer immer die Kinder sind, sie haben ein Recht auf Bildung.»