Heute präsentiert die Türkei den neuen Lehrplan für die Schulen. Laut Alpaslan Durmus, dem Vorsitzenden des Bildungsausschusses, ist er nach «türkischen Werten» gestaltet worden.
«Türkische Werte» heisst unter anderem: Das Bildungsministerium verbannt die Evolutionstheorie aus der Grundschule. Durmus: «Die Theorie ist fragwürdig, umstritten und zu kompliziert für Schüler.»
Die Evolutionstheorie basiert auf Forschungen von Charles Darwin (1809–1882). Der Brite zog den Schluss, dass alle Lebewesen von gemeinsamen Vorfahren abstammen müssten und sich laufend weiterentwickelten. Die Theorie ist weltweit anerkannt – so auch von der katholischen Kirche.
Die Debatte über die Evolutionstheorie war in der Türkei Anfang Jahr entstanden, als der türkische Vizepräsident Numan Kurtulmus die Evolution als archaische Theorie bezeichnete, die nicht genügend belegt sei.
Neues Kapitel «Lebewesen und ihre Umwelt»
Die Evolution nach Darwin wird nun aus allen Biologiebüchern der neunten Klassen entfernt. Sie wird durch das Kapitel «Lebewesen und ihre Umwelt» ersetzt. Erst an der Uni wird die Evolutionstheorie wieder zum Thema.
Auch der Säkularismus erhält in den Lehrbüchern weniger Platz. Bisher wurde das Zusammenleben von mehreren Religionen ebenso gelehrt wie die Trennung von Staat und Religion.
Für Regierungskritiker sind diese Änderungen im Lehrplan gefährlich. Sie befürchten, dass Präsident Recep Tayyip Erdogan (63) das Land zu einem neuen muslimischen Osmanischen Reich umbauen will.
Islamistische Tendenzen
Tatsächlich deuten weitere Anzeichen darauf hin.
• Erneut hat die Türkei am Sonntag eine Schwulen- und Lesbenparade aus «Sicherheitsgründen» verboten. Auch in den Vorjahren wurde die Parade stets unter fadenscheinigen Begründungen verhindert.
• Zwischen 2002 und 2013 wurden landesweit 17'000 neue Moscheen gebaut. Alte Gebetshäuser aus der Zeit des Osmanischen Reichs wurden aufwendig saniert.
• Unter Erdogan wurde zuerst im öffentlichen Leben ein Hidschab-Verbot eingeführt. Inzwischen wurde es wieder aufgehoben. 2015 hat sogar eine Richterin einen Prozess mit Kopfbedeckung geführt.
• Obwohl sehr beliebt, wurden Dating-Shows am Fernsehen verboten. Es gab 120'000 Reklamationen.
• Imam-Schulen haben grossen Zulauf. Die Imam-Hatip etwa verzeichnete 2002 noch 65'000 Studenten, heute sind es eine Million.
• Der Religionsunterricht ist obligatorisch. Dazu gehören auch Kurse wie «Das Leben des Propheten Mohammed». Kinder werden nun schon von klein an – und nicht wie bisher ab zwölf Jahren – in den Koran eingeführt. Erdogan sagte: «Wir wollen die Jugend religiös erziehen.»
• Der Verkauf von Alkohol wurde eingeschränkt. Ab 22 Uhr ist der Verkauf verboten, aus Sportklubs, Tankstellen und Jugendklubs wurde er ganz verbannt. Auch die Werbung wurde stark eingeschränkt.
• Die Expansion der 2015 gegründeten staatseigenen Bank Ziraat Islamic wird massiv vorangetrieben. Bis Ende 2018 soll es 170 Filialen geben.
«Programm mit Scharia-Prinzipien»
Die grösste türkische Oppositionspartei CHP kritisiert den Lehrplan. Der CHP-Abgeordnete für Istanbul, Baris Yarkadas, wirft der islamisch-konservativen AKP von Erdogan vor, das Land nach islamischen Gesetzesprinzipien regieren zu wollen.
Yarkadas: «Eine erwiesene Theorie aus den Lehrplänen zu entfernen, heisst, Wissen und Wissenschaft zu missachten. Die AKP-Regierung ersetzt sie mit einem Programm, das Scharia-Prinzipen enthält.»