«Eskalation von Todesopfern»
Schweizer Forscher warnen vor Herdenimmunität

Ein viel beachtetes Forschungspapier aus den USA und Grossbritannien schlägt eine Durchseuchungsstrategie für die Bekämpfung der Corona-Pandemie vor. Schweizer, Deutsche und Österreichische Forscher stellen sich entschieden dagegen.
Publiziert: 20.10.2020 um 10:50 Uhr
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Aktualisiert: 20.10.2020 um 11:10 Uhr
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Bundesrat Alain Berset sagte am Sonntag: «Die zweite Welle ist da».
Foto: keystone

Die zweite Welle ist da. Das hat Bundesrat Alain Berset am Sonntag deutlich gesagt. Der Bundesrat hat eine Homeoffice-Empfehlung ausgegeben und eine verschärfte Maskenpflicht verordnet. Andere Länder haben strengere Vorschriften verfasst. Doch welche Strategie ist die beste? Wissenschaftler überall auf der Welt versuchen seit Monaten herauszufinden, wie man die Epidemie am besten übersteht.

Eine Idee, die derzeit stark an Zuspruch gewinnt: die Durchseuchungsstrategie. Wenn alle Menschen infiziert sind, kann sich das Virus nicht mehr verbreiten und stirbt aus, so die Theorie. Diese wird unter anderem in der «Great Barrington Declaration» propagiert, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde und weltweit bereits Hunderttausende Anhänger gefunden hat.

Vorschlag: Nur Risikopatienten isolieren

Im Text, der von drei Forschern aus den USA und Grossbritannien verfasst wurde, heisst es unter anderem: «Der einfühlsamste Ansatz, bei dem Risiko und Nutzen des Erreichens einer Herdenimmunität gegeneinander abgewogen werden, besteht darin, denjenigen, die ein minimales Sterberisiko haben, ein normales Leben zu ermöglichen, damit sie durch natürliche Infektion eine Immunität gegen das Virus aufbauen können, während diejenigen, die am stärksten gefährdet sind, besser geschützt werden.»

Vereinfacht gesagt: Wer ein niedriges Sterberisiko hat, soll sein Leben wie gewohnt weiterführen. Risikopatienten dagegen sollen isoliert werden und ihr Haus nur im Notfall verlassen.

Durchseuchung = Eskalation von Todesopfern

Gegen die «Great Barrington Declaration» regt sich nun Widerstand. Die Gesellschaft für Virologie, in der diverse Schweizer Forscher und beispielsweise der bekannte Berliner Virologe Christian Drosten vertreten sind, stellt sich entschieden gegen Forderungen, Corona-Beschränkungen zugunsten wenig Gefährdeter aufzuheben. «Mit Sorge nehmen wir zur Kenntnis, dass erneut die Stimmen erstarken, die als Strategie der Pandemiebekämpfung auf die natürliche Durchseuchung grosser Bevölkerungsteile mit dem Ziel der Herdenimmunität setzen», heisst es in einer Mitteilung.

Isabella Eckerle leitet die Abteilung Infektionskrankheiten an den Genfer Universitätskliniken und hat die Erklärung mitunterzeichnet. Sie twittert:

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Eine unkontrollierte Durchseuchung würde zu einer eskalierenden Zunahme an Todesopfern führen, heisst es in der Erklärung der Forschenden. Denn auch wenn ältere Menschen streng isoliert würden gebe es noch Risikogruppen, die viel zu zahlreich, zu heterogen und zum Teil auch unerkannt seien, um aktiv abgeschirmt werden zu können. Dazu gehören laut den Wissenschaftlern unter anderem Übergewichtige, Diabetiker, Krebspatienten, Schwangere und andere Personen.

Zudem wisse man laut der Drosten-Gruppe auch noch nicht zuverlässig, wie lange eine nach Infektion erworbene Immunität anhält. Das Anstreben der Herdenimmunität ohne Impfung sei unethisch sowie medizinisch, gesellschaftlich und damit auch ökonomisch hochriskant. (vof)

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